StadtKunst

Straßenkunst erzählt viel über eine Stadt. Da tauchen plötzlich Stadt- und Verkehrsplaner und Architekten auf. Sie entscheiden bewusst oder unbewusst über den Stadtraum. Manchmal glücklich, oft unglücklich. Was passiert, wenn diese Berufsgruppen und der Stadtmensch an einer Straßenbahnhaltestelle in Hannover aufeinandertreffen, sieht man hier an der Strangriede in der Nordstadt.

Es kommt immer anders. Robust muss das Material der Konstruktion sein, kühl, hart und pflegeleicht. Dabei denkt der Planer nicht an Kronkorken. Es hätte auch unglücklich enden können, aber alle passen hinein. So funktioniert Integration. Für den Stadtbrausetrinker, Abfahrt um 15:05 und für den Stadtteilbiertrinker, Abfahrt um 20:35. Es entsteht StadtKunst als spontanes Gemeinschaftprojekt. Vor der Abfahrt habe ich immer gegrübelt über das Kaugummi in der obersten Reihe. Es war sicher der Architekt, der mit moderner Klebetechnik fixiert hat. Die Corona Strickkunst aus dem Frühjahr 2021 vor meinem Lieblingsbäcker erinnert mich immer wieder daran, dass ich in dieser schwierigen Zeit hier genau an dieser Stelle begonnen habe , über Stadtkunst zu schreiben.

Ähnliche Gedanken tauchen auf der täglichen Bahnfahrt auf. Irgendwann habe ich verstanden, das auch Frösche mitfahren dürfen. Was sagt uns also der Frosch, der den Platz des Kinderwagens einnimmt? Kreativität entsteht, indem man die eigene Betrachtungsweise auch mal auf den Kopf stellt. Nicht alles, von dem man lange überzeugt war, bringt die endgültige Lösung. Manchmal hilft ein einfacher Perspektivwechsel.    

Hier steht ein großer Baumeister des 19. Jahrhundert. Heute würde man sagen , er gehörte zu den Top Ten der Zeit. Seine konstruktive Theorie wirkte bis ins Bauhaus. Geboren wurde er in Neuruppin und natürlich gibt es dort auch ein Denkmal. Es steht auf  dem Kirchplatz am Standort seines Elternhauses, das 1787 während des großen Stadtbrandes zerstört wurde.  Die Perspektive hilft ihm, souverän auf Graffiti zu schreiten. Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) hätte die dekorative Veredelung des tristen Betons sicher gefallen. Man kann nur hoffen, dass kein Planer kritisch über das kunstvolle Nebeneinander von Park, Denkmal und Street Art nachdenkt und irgendwann moderne Stadtmöblierung vorschlägt. Vielleicht schreibe ich mal an die Stadt Neuruppin und bitte um Erhaltung der tollen Situation. Im Vergleich zu Schinkel in Neuruppin ist es Albrecht Daniel Thaer (1752-1828) auf seinem Sockel in Celle nicht ganz so gut ergangen. 

Dem Begründer der modernen Agrarwissenschaften nützte seine wissentschaftliche Laufbahn wenig, als sich ihm an einem grauen Novembermorgen im Jahr 2017 zwei gelb gekleidete Männer näherten. Dem vom Schmutz zweier Bundesstraßen jahrelang Gequälten rückten sie mit Hochdruck und Wasser zu Leibe.

Zum Thema Hochdruckreinigigung fällt einem dann aber doch sofort wieder Graffiti ein. Warum benutzen Graffiti Künstler eigentlich die glatten Fassadenflächen moderner Architektur so gerne als Leinwand für ihre Gemälde. Was fehlt ihnen am Bau? Die Architektur, für die Schinkel stand und die man noch im Original bewundern kann, gibt uns Antworten. Sie zeigt, obwohl im strengen Raster funktional und wirtschaftlich gebaut, entscheidende Unterschiede zu heutigen Vorstellungen.

Herausragendes Beispiel im Gesamtwerk war die zerstörte Bauakdemie in Berlin (1832-36). Sie wird wegen ihrer wegweisenden Fassade auch als Ursprungsbau der Moderne bezeichnet. Nach einem Bundestagsbeschluss von 2016 wird der lang umstrittene Wiederaufbau auch mit Mitteln des Bundes gefördert. Hier ein Bild des Standortes aus dem Jahr 2018 mit Musterelement der Fassade. Schinkel, der in Berlin, Potsdam und Brandenburg an jeder Straßenecke baute, entwarf auch die nicht spektakuläre aber schlicht schöne Kirche in Petzow/Brandenburg (1841-42). Ein Beispiel für die Materialwahl der Schinkel Zeit sind die verschiedenfarbigen, hangestrichenen und geschlämmten Ziegel. Als Baustoff aus Ziegeleien der direkten Umgebung oft einzeln handgestempelt,  geben sie der Fassade Struktur, Tiefe, Proportion, Farbigkeit und Ornament. Die Dorfstraße, die unterhalb der Kirche direkt auf das Herrenhaus Petzow (Schinkel 1825) und den Park von Lenne zuführt, wirkt trotz der deutschen Autos wie aus einer englischen Grafschaft kopiert. Dazu passte auch das trübe Wetter auf unserer Fahrradtour.

Es muss nicht jede der Schinkelschen Fassadeneigenschaften vorhanden sein, aber wenn alle fehlen, wird die Fläche monoton. Belegt mit Industrieprodukten, schaffen es die Gebäude heute oft nicht mehr, mit dem Betrachter zu sprechen. Eine der wenigen Ausnahme ist hier sicher David Chipperfield, der auch deshalb gerne für bauliche Ergänzungen in denkmalgeschützter Umgebung beauftragt wird, weil er den traditionellen Materialeinsatz, wie hier in Berlin an einem  Galeriegebäude gegenüber der Museumsinsel, gekonnt an modernen Baukörpern umsetzt und diese deshalb nicht fremd wirken. Mit Annäherung an das Gebäude und bei wechselndem Lichteinfall verändert der grob geschlämmte Ziegel ständig seine natürliche Materialwirkung. Den Pergamonsaal auf der Museumsinsel gegenüber konnten wir im Sommer 2014 gerade noch besichtigen bevor er dann im Herbst bis voraussichtlich 2027 geschlossen wurde.

Gottfried Semper (1803-1879), ein Zeitgenosse Schinkels von ähnlicher Architekturauffassung, hatte zur Struktur, Farbe  und Oberfläche von Fassaden eine ganz eigene, umfassende Theorie. Danach gingen die textilen, gewebten und  geflochtenen Wandstrukturen und Muster der ersten menschlichen Behausungen mit ihren raumabschließenden Matten, Teppichen, Flechtwerken und Zeltgeweben im Verlauf der Baugeschichte allmählich über auf die Oberflächen und Motive der späteren Steinfassaden und Massivbauten.

Bleibt man in der Logik dieses stofflichen Wechsels, dann muss man den Graffiti Künstlern Recht geben, die glatten Fassaden und unstrukturierten Flächen diesen Ausdruck wiedergeben wollen. Auf das militärische, autoritäre Preußen der Schinkelzeit kann man heute sehr gut verzichten. Aber die Oberbaudeputation, der Schinkel in Preußen vorstand und die Bauvorhaben für das Königreich in ökonomischer, funktionaler und ästhetischer Hinsicht prüfte, wünscht man sich für manches heutige Neubaugebiet zurück.

Graffiti liefert den Ersatz für fehlende Ausdrucksstärke der Fläche, wie in Tallin im Kreativiertel Telliskivi nahe der Altstadt, einer ehemaligen Industriebrache hinter der ebenfalls sehenswerten Markthalle.

Ob auf den Pylonen von Windrädern, im denkmalgeschützten, ehemaligen Continentalwerk in Hannnover Limmer, Graffitti steht als Gesamtkunstwerk. Der Künstler sucht Kontakt zum Betrachter. Oder die Figuren sprechen mit den Gesichtern der Vergangenheit auf einer Gründerzeitfassade gegenüber der Lutherkirche in Hannover.

Den Versuch, über die Fassade ins Gespräch und in eine Erzählung zu kommen,  gab es schon immer. Das Alte Rathaus in Bamberg,  im 15. Jahrhundert auf Pfählen mitten in der Regnitz erbaut, erlebte im 17. und 18. JH verschiedene Umbauten und Umgestaltungen. Die Rokkokomalerei von 1755 war 1950 fast völlig verschwunden.

Sie wurde 1959 bis 1962 rekonstruiert und zeigt sich heute wieder als typische Illusionsmalerei mit allegorischen Darstellungen. Kein Wunder ist übrigens, dass in Bamberg mit 13 familiengeführten Brauereien im Stadtgebiet und 60 Kleinbrauereinen im Bamberger Land so manche Braukunst auf der Baukunst vergessen wird.

Nach mehr Kunst ruft auch die architektonisch auf langer Strecke eher gesichtslose Randbebauung der Hamburger Allee in Hannover, eine Hauptachse der autogerechten Stadt aus der städtebaulichen Nachkriegsplanung. Bildgewaltig für Autofahrer, die hier vierspurig an der Ampelkreuzung ausgebremst werden.

Hamburger Allee Hannover

Ein Gebäude, das ohne Graffiti mit uns spricht, ist der Heinemannhof im Spätwerk von Henry van de Velde (Hannover Bemerode 1930-31). Material, Plastizität, Struktur,Linie und Proportion. Den Rest macht die Natur und die Lage auf dem Grundstück vor einem weitläufigen Park. Die Sorgfalt und den menschlichen Masstab erkennt man an der Ausbildung der einzelnen Erker und Balkonvorsprünge. Die gleiche Qualität findet man natürlich auch innen, hier eher als Weiße Moderne. Wer noch mehr Rote Moderne in Hannover sehen möchte, sollte sich die gestalterisch sehr geschlossenen Wohnanlagen und Schulbauten in Hannovers Südstadt anschauen. Am besten, wenn die Sonne auf die Ziegel scheint.                                                                                                                    

Die Ziegelbauten der 20er und 30er Jahre werden heute wieder gerne von Investoren kopiert. Die großen Wohnungsbaugenossenschaften besinnen sich auf ihre Traditionen. Da man aber Baulinien einhält und Baufelder planungsrechtlich maximal ausnutzt (Grundstücke mit Genius Loci gibt es in diesen Diskussionen schon lange nicht mehr), baut man auf die Grundstückskante. Vorbereiche und Staffelungen wie bei van de Velde entfallen. Warum eigentlich, wurde ich neulich von einem Freund gefragt, als wir wieder mal vor einem solchen Investment standen. Was antwortet man da? Wirtschaftliche Zwänge durch Mietpreisbindung und Renditeerwartung?

Man bleibt lieber wortlos, fährt statt dessen weiter nach Hannover Kleefeld und schaut sich die unglaublich schönen Geländeversprünge, Vorbereiche und Zwischenräume der Häuser in der Gartenstadt an (Baubeginn 1927). Ein paar Straßenzüge weiter wird die Sievertstraße direkt an der Bahntrasse  von einer langgestreckten Reihenhausbebauung flankiert (um 1928). Sowohl die für Reihenhäuser eher ungewöhnlichen, kurzen Laubengänge, als auch die Vorbereiche bieten Wohnqualität. Kleefeld als nachgefragter Stadtteil profitiert noch heute von dem hohen Anspruch, den die Wohnungsbaugenossenschaften der 20er und frühen 30er Jahre in ihren Projekten umsetzten.

Hannover Kleefeld

Niemand kann behaupten, dass diese Zeit ohne wirtschaftliche Zwänge und Nöte verlief und trotzdem entstand Mietwohnungsbau auf hohem Niveau. Auffällig ist in diesem historischen Blick zurück, dass das ausdrückliche Recht auf Wohnen in die damalige Weimarer Verfassung aufgenommen wurde, während das Recht auf Wohnen so explizit im Grundgesetz als Grundrecht nicht verankert ist. Die nachgeschalteten Verfassungen der Bundesländer formulieren hier sehr unterschiedlich und nicht immer eindeutig.

Die Ursache für die heutige Vernachlässigung von Zwischenräumen, Grünbereichen und Geländeausformung liegt in der Planungskultur von Wohnanlagen. Die Baumassen sind zur Rentabilität durch den Investor bereits vorgegeben und werden architektonisch nur noch umgesetzt. Landschaftsplanern, wenn sie denn überhaupt gefragt werden, bleibt nur die Gestaltung von Restflächen.  Selbst Wettbewerbe, die hier eigentlich kreative Lösungen schaffen sollen, unterliegen oft schon in einer frühen Phase der Auslobung diesem Investmentdruck.

Die genossenschaftliche Wohnanlage Möhringsberg in Hannover Nordstadt, die 2000 fertiggestellt wurde, bildet eine seltene Ausnahme. Eine der Hochbauplanung vorgeschaltete Freiraumplanung und ein städtebauliches Verfahren sicherten das Ziel, wohnungsnahen und grünen Freiraum zu schaffen.

So entstanden Grünachsen, großzügige Zwischenräume für Aktivitäten der Bewohner und im Abschluss des Geländes ein neuer Stadtteilpark mit Erholungs-, Sport- und Spielflächen. Und das alles mit gestaffelten Mieten und einem festen Anteil der Wohnungen in Sozialbindung.

Ein  Hauptargument für die gesetzliche Denkmalpflege ist die Erhaltung der Baukultur im öffentlichen Interesse. Aber im Grunde geht es um Qualität, die wir heute nicht mehr leisten. Natürlich kann man nicht alles museal konservieren, aber ein wichtiger Schritt wäre, genau hinzuschauen, welche Qualität man in die Gegenwart hinüberretten kann.

Das Kloster Lehnin zwischen Brandeburg an der Havel  und Potsdam hat dies schon geschafft. Es wurde 1180 von Zisterziensern gegründet und integriert sowohl eine moderne Klinik als auch kirchliche Funktionen, Hotelbetrieb, Museum und Tourismus in eine Klosteranlage, die sich seit Jahrhunderten in die Topografie der Landschaft einfügt.