In meinem Geburtsjahr 1967 wurde Braunschweig Deutscher Fußballmeister. Das war bisher allerdings kein Grund für eine besonders tiefe Bindung. Gerade habe ich mich wieder etwas angenähert. Geholfen hat mir dabei eine befreundete Stadtplanerin aus der Nachbarstadt Wolfenbüttel. Ortskundig und stadträumlich professionell hat sie mich am grünen Band der Oker mit einem ganz anderen Blick durch Braunschweig begleitet. Grund genug hier mit Stadtgrün ein neues Thema zu öffnen.

Schon auf der morgendlichen Fahrt vom Bahnhof vor der ersten Ampel ein Radfahrer mit Blattgrün im Korb. Ein guter Beginn. Damit das Erlebnis Stadtgrün aber auch weiter ökologisch glaubhaft blieb, stellte Anja ihren BMW ganz schnell und kurz fluchend über andere noch schlafende Verkehrsteilnehmer in Parkposition. Habe nochmal überlegt und im Satz das sprachlich etwas zu schwache Wort schimpfend ausgetauscht.
Wir begannen unsere Stadtwanderung an der Landessparkasse Braunschweig, ein Hochhaus der Nachkriegsmoderne (1963 bis 1966 – Architekt Hannes Westermann) mit Integration der Nordfassade des alten klassizistischen Bahnhofs aus dem 19. Jahrhundert, der bis 1960 in Betrieb war. Diese Radikalität und Höhensprünge von Historie neben Moderne sollte uns an diesem Tag in der Braunschweiger Innenstadt noch an vielen Stellen begegnen.
Braunschweig besitzt als autogerechte Planstadt der Nachkriegszeit einen überdimensionierten Verkehrsraum, der an vielen Stellen nicht mehr in der ursprünglichen Größe benötigt wird, weil sich die Fahrzeugfrequenzen verlagern. Ein entscheidender Grund ist das sehr gut ausgebaute öffentliche Nahverkehrs- und Radwegenetz, das im Rahmen eines Mobilitätskonzeptes mit umfangreichen Investitionen in der Region kontinuierlich erweitert wird. Diese nachhaltige Entwicklung setzt auf den mehrspurigen Hauptverkehrsachsen und Plätzen Fläche frei für eine bauliche Nachverdichtung und Begrünung. Auf dem Weg durch das Michaelisviertel fällt der dreieckige Bankplatz auf. Hier wurden durch Reduzierung der Verkehrsräume um die vorhandenen Bäume frei geformte grüne Inseln angelegt. Der Platz macht jetzt wieder Platz für Menschen.
Irgendwann standen wir vor dem Portal der Martinikirche. Spontan gingen wir hinein in die kühle Ruhe und das diffuse, gedämpfte Sonnenlicht hinter den gotischen Fenstern. Nur wenige Marktbesucher hatten sich an diesem Einkaufssamstag in den Kirchenraum verirrt. Plötzlich angenehme Töne, eine schöne Stimme – Gesangsprobe im Chorraum mit Klavierbegleitung.
Nach diesem besonderen Klangmoment wartete das reservierte Frühstück im Café Tante Emmelie am Eulenspiegelbrunnen. Umsorgt wurden wir dort von einem etwas verträumten, zeitverzögerten aber durchaus engagierten Serviceteam. Ich vermute Student(inn)en der Soziologie oder im Lehramt. Sie erklärten uns umfassend und pädagogisch das ausgefeilte System zum Tischbuffet, einer Kombination aus à la carte Frühstück und Buffet mit integrierter all you can eat Option. Gut dass Braunschweig so viele kompetente Student(inn)en hat. Nach dieser mental etwas anstrengenden Unterrichtssituation war die Qualität und der Geschmack dann aber wirklich toll. Auch den Sitzplatz im Panoramafenster fand ich sehr prominent und gemütlich, wenn auch ergonomisch anspruchsvoll zu erreichen.
Die Rosentalbrücke ist eine historische Hängebrücke von 1880, die über einen Seitenarm der Oker führt. Hier verlief der historische Befestigungsring. Die heutige Form der Wallanlagen entstand im 19. Jahrhundert durch bauliche und landschaftsplanerische Umgestaltung der barocken Stadtbefestigung in eine zivile Wallpromenade. Auf diesem grünen Ring, der abwechslungsreich mit Parkflächen, alten Bäumen, Uferwegen und topographischen Höhenwechseln die Altstadt umarmt, setzten wir unsere Stadtreise nach dem Frühstück fort, erreichten Löbbeckes Insel und schauten am Petriwehr beim Aufbau des diesjährigen Kanuslaloms der Landesmeisterschaften zu. Für den Wettkampf im Wildwasser wird dazu das Wehr geöffnet.
Auf der Insel ein paar Schritte weiter etwas erhöht auf einem Hügel liegt die Villa Löbbecke, die 1880 – 1881 von Constantin Uhde für die einflussreiche Bankiersfamilie Löbbecke errichtet wurde. Die helle Mittagssonne auf der Neorenaissancefassade im Stil eines römischen Pallazos gab uns einen kurzen italienischen Moment. Ab 1933 war das Gebäude Hauptquartier der Braunschweiger SS. Nach schweren Kriegsschäden wurde die Villa saniert, modern erweitert (1967-1969 Architekt Justus Herrenberger) und bis 2009 als Gästehaus der Universität Braunschweig genutzt. Seit dem Verkauf an einen Privatinvestor wird das Gebäude von einer Marketing- und Eventagentur genutzt und kann für Events gemietet werden.
Mobilität Regionalverband Braunschweig




















Auch die beiden Torhäuser zur Wendenstraße sind Teile der klassizistischen Umgestaltung der Bastion zur Promenade und flankieren symmetrisch den Stadteingang.
Ab Ende der 60er Jahre bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hatte der selbstbewusste Hochhausbau der Nachkriegsmoderne in Braunschweig seine Blütezeit. Das Hochhaus an der Mühlenpfordtstraße von 1976 mit der Architekturfakultät markiert gleich hinter den historischen Torhäusern, gegenüber auf der anderen Seite der Oker, den Westeingang zum Campus der Universität Braunschweig. Die Architekten dieser Zeit hatten keine Angst vor Maßstabssprüngen. Dieter Oesterlen als herausragender und prominenter Planer baute bereits in der Zeit des Wiederaufbaus nach Kriegszerstörung von 1954 – 1956 das Okerhochhaus der Universität. Die Krater der Granateinschläge an den noch erhaltenen benachbarten Klinkerfassaden der Altbauten erinnern an diese Zeit. Ähnliche Kriegsreliefs, wichtige Erinnerungsoberflächen, kenne ich auch aus Hannover.
Einige Gebäude auf dem Campus sind Zeugen des Nationalsozialismus und der Gleichschaltung der Hochschule. Besonders auffällig ist das hochaufragende Haus der Wissenschaft mit seiner strengen Vertikalität (Fertigstellung 1937 – Architekt Emil Herzig). Milde Bauhistoriker beschreiben es als Spätexpressionismus. Das denkt man beim ersten Anblick, Expressionismus der Roten Moderne der 20er Jahre wie bei Höger oder Poelzig. Von der Bauzeit und auch von der Wirkung und Proportion des Baukörpers passt das aber nicht wirklich und ich finde Monumentalexpressionismus treffender. Denn Monumentalität war das Hauptstilmerkmal der nationalsozialistischen Architektur. Besonders häufig zu finden auch bei den aufgeblasenen klassizistischen Repräsentationsgebäuden.
Wie eine versehentliche Skalierung der Ausführungspläne mit dem Faktor 1,5. Das Haus ist im Innenraum derartig überhöht, dass zur modernen Nutzung ganz entspannt eine zweite Ebene eingebaut werden konnte. Der Architekt des Hauses Emil Herzig, ein in der NSDAP gut vernetzter und in allen politischen, wirtschaftlichen Institutionen und Bildungseinrichtungen der Partei unterwegs, wurde in diesem Beziehungsgeflecht zum Hochschullehrer der Universität berufen.
Ganz anders als die weite Parkfläche des Welfengartens hinter der Universität Hannover, dem Wohnzimmer der Studenten, hat das Campus Gelände in Braunschweig kleinteilige grüne Zwischenräume, die zusammen mit der Wasserlage direkt an der Oker eine besondere, intime Raumwirkung entfalten. Das Grün fließt durch den Campus. Diese grünen Qualitäten nutzen nicht nur die beiden Hunde, die wir dort trafen, sondern auch der Neubau des Studierendenhauses, ein filigranes, lichtdurchflutetes Pavillongebäude in weißer Stahlkonstruktion. Interessant sind die Artikel im Baunetz und der Deutschen Bauzeitung zu den Sonderlösungen in Bauphysik, Akustik und Brandschutz.
Und dann gibt es da ja noch das Gurkenglas, ein lichtdurchfluteter Glaswürfel für Vorträge, Präsentationen und Veranstaltungen mit Sichtbetonkern und flaschengrüner Hülle aus Bauprofilglas (Eröffnung 2000 – Entwurf Institut für Baugestaltung Meinhard von Gerkan) Zwei fröhliche, helle Pavillongebäude als Antwort auf die massige totalitäre Architektur der 30er Jahre und die steinerne Schwere des Klassizismus am historischen Hauptgebäude.
Haus der Wissenschaft Geschichte





















Wir verließen den Campus über die Okerbrücke (Baujahr 1871) , die älteste erhaltene Brücke im Promenadenbereich. Der Architekt der Brücke Constantin Uhde war uns bereits an der Löbbecke Villa begegnet. Durch den Theaterpark und den Museumspark bewegten wir uns am Ufer der Oker entlang vorbei an Kanufahrern, den alten Villen mit ihren Gärten zum Wasser und den autoritären, klassizistischen Steinmassen des Staatstheaters und des Herzog Anton Ulrich Museums bis zur Kaffeepause am Kurt Seeleke Platz. Das Café, wieder eine gute Wahl, lag an diesem kleinen grünen Platz zwischen Magnitorwall und der trubeligen Gastronomiemeile im Magniviertel sehr ruhig und beschattet unter Bäumen . Passend zur Kaffeezeit gönnten wir uns dort ein herbes (alkoholfreies!) Weizenbier, das ich mit einem Stück Käsekuchen veredelte. Da war er wieder, mein genetischer Geschmacksdefekt.
Auf dem Rückweg tauchten wir dann nochmal ein in den Keipentrubel des Magniviertels bis wir schließlich vor dem Konsumtempel der Schlossarkaden standen. Die 2006 mit Fragmenten der 1960 abgerissenen Schlossruine wiederaufgebaute Schaufassade steht vor einen Neubaukern (Eröffnung 2007), mit einer gestalterisch eher eintönigen Glasfassade zur Rückseite. Also bitte nicht umdrehen.
Am Ende unserer grünen Expedition schloss sich der Kreis um Braunschweig an der Grinsekatze. Wieder mit einem Weizen, diesmal im Sand der Strandbar und natürlich wieder am Ufer der Oker.









