Ohne Essen und Trinken kein Überleben. Auch nicht für Architekten im Urlaub, die scheinbar orientierungslos auf seltsamen Pfaden in Stadt und Land herumirren.
Schließlich wird das Café erreicht. Mental und körperlich erschöpft sitze ich vor einem kalten Weizengetränk mit Kuchen. Aus unerklärlichen Gründen ist genau diese herbsüße Kombination das rettende Ufer. Vielleicht aber auch ein sensorisch genetischer Defekt.
Interessant sind die Gespräche von Tisch zu Tisch. Auf dem Viktualienmarkt in München gibt es einen aus der Zeit gefallenen Stand in der dort typischen, grünen Holzbudenkonstruktion. Kaffee wird für 95 Cent verkauft. Zwei Rentner am Nebentisch erklären mir dazu, dass die bescheuerten Hipster ein paar Meter weiter für den gleichen Kaffeegehalt den fünffachen, milchaufgeschäumten Preis bezahlen. Der Hipster würde antworten : Aber das hier ist 100 % Arabica, direktimportiert und handgeröstet aus der Siebträgermaschine – Münchener Lebensgefühl.
Sogenannte Gastronomieentwickler bemühen sich immer wieder, trendige und innovative Konzepte in belanglose Neubauten zu integrieren. 10 Jahre habe ich das selbst versucht. Designermöbel und trendiges interior design funktionieren in diesen Räumen selten. Ganz einfach, weil die Räume keine Räume sind, sondern Kisten. Man braucht stattdessen eigentlich nur schlichte Stühle, Bänke und einen einfachen Tresen umgeben von Geschichte. So wie vor und hinter den alten Ziegelmauern des Café Fräulein Brömse am Hansemuseum Lübeck. Oder echte Graffiti Kreativität wie im Kunst- und Kulturpark Bahnwärter Thiel im Schlachthofviertel München. Dort neben dem Zanzibar, wo aus dem Container indische, arabische und afrikanische Gerichte angeboten werden, fand sich in einem ruhigen Winkel ein einfacher Tisch mit Platz für Weizen und Schokoladenkuchen. Im Café Dudok in Rotterdam wirkt der zweigeschossige Luftraum mit Galerie. Die Möbel sind nur Nebendarsteller. Problem war nur, dass ich die französische Karte nicht lesen konnte, und Pferdewurst gegessen habe.
Auszeit bedeutet, den Alltag mal kurz auszublenden. Für viele heißt das Strand und fly me to exotic destinations. Exotik findet man aber auch in unscheinbaren Wohnsiedlungen. Timons Fußballkarriere näherte sich gerade dem Ende, da fuhren wir neugierig geworden nach Bad Tabarz in Thüringen und standen unangemeldet im privaten Fußballmuseum von Marcel Wedow. Hier erfuhr ich das erste mal über Bert Trautmann, der als deutscher Kriegsgefangener nach England kam und bei Manchester United zum 1. Torwart aufstieg. Im Pokalendspiel 1956 spielte er mit angebrochener Halswirbelsäule weiter und wurde zum englischen Nationalhelden. 2018 kam die legendäre Geschichte übrigens ins Kino. Exotisch ist für mich ein Fußballmuseum nicht größer als eine Garage und ein Trägerverein, der in dieser Basisstation engagiert soziale Projekte organisiert. Viele Grüße an Gianni Infantino und auch an Uli Hoeneß, der gerade die WM 2022 in Katar öffentlich verteidigt hat. Mehr zu Marcel Wedow, der in der 3. Liga der DDR spielte unten im Interview aus 11 Freunde und auf der Seite des Vereins.
Und schon wieder eine Fachwerkstadt. Am Samstagmorgen im Hofcafe Wolfenbüttel. Ein historisches Gebäude und ein grüner Café-Hofgarten. Wir sitzen vor der alten Bruchsteinmauer. Die Gespräche spontan und das Thema unerwartet schwierig auf diesem Freundschaftsbesuch. Nicht ganz einfach, aber Entspannung und Ruhe kamen durch den Ort und das Frühstück.
Vorfreude im Schloss Derneburg bei Hildesheim – eine geöffnete historische Tür und eine einfache Schiefertafel. Das Augustinerkloster (Gründungsjahr 1213) wurde von Georg Ludwig Friedrich Laves ab 1846 mit sehr radikalen baulichen Eingriffen und Abrissen zum Schloss umgebaut. Im ehemaligen Kreuzgang sitzen die Cafégäste an einfachen Stehtischen. Der Schlosshof ist Biergarten. Wie so oft findet man hier in der Provinz unerwartet hochkarätige Kunst. Im Schlosspark und den Ausstellungsräumen liegt der Schwerpunkt auf modernen Skulpturen. Für die weitere Umgebung des Schlosses orientiert man sich am Laves Kulturpfad. Dazu findet sich mehr unter Raum – StadtPunkte
Ob ein Ort zur Auszeit wird, entscheiden Menschen , die ihn besuchen. Im Sommer 2016 waren wir mit unserem gelben TAB Wohnwagen Ei in Alt Garge, einem Dorf etwa 30km östlich von Lüneburg in der Niedersächsischen Elbtalaue. Mitten im Biosphärenreservat lag auch unser Campingplatz landschaftlich toll direkt neben dem Waldschwimmbad – allerdings ohne Brötchenverkauf. Deshalb fuhren wir jeden Morgen hinunter in den Ort zu Schmidt’s Laden. Anfangs etwas misstrauisch beäugt von den Kaffeetrinkern. Immer die gleichen 5 Gesichter morgens im Kiosk direkt neben der Verkaufstheke vor dem Illustriertenregal. Nach zwei Wochen wurden wir dann allmählich freundlich begrüßt. Der triste Kiosk mit Außengastronomie unterm Schirm ist also auch ein Identifikationsort. Immer noch, ich habe ihn gerade gegoogelt. Öffnungszeiten von 6:30 bis 18:00 Uhr und auch immer noch betrieben von Cathrin Schmidt. Diese Kontinuität bedeutet also, dass es hier ein anhaltendes Bedürfnis der Gäste nach Auszeit und sozialem Kontakt gibt.
Alles jenseits von neuen Designtrends und einem übertriebenen Gestaltungswillen. Es ist nicht ausschließlich die Architektur, die das Raumgefühl eines Ortes bestimmt. Auch wenn Architekten das gerne hören. Zusätzlich gibt es viele andere weiche und emotionale Faktoren. Was ich damit meine, zeigt ganz gut das Beispiel der Restaurantsauna Löyly in Helsinki. Zu welcher Tageszeit man einen Ort aufsucht, welches Publikum bereits da ist und wie authentisch alles wirkt, ist entscheidend. Natürlich fanden wir das architektonische Konzept spektakulär mit Verbindung von Restaurant, Sauna und begehbarer Dachlandschaft als Sonnenterrasse. Aber die Menschen dort und die Atmosphäre waren zu unserem Besuch hip, trendy und auf die eigene Außenwirkung fokussiert. Wir fanden keine Identifikation mit dem Ort. Im Doppeldeckerbusrestaurant (tolles Wort) am Lido Strand dagegen wurden wir von derartig netten Menschen empfangen, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, was wir dort gegessen haben. An die Atmosphäre und das Lachen kann ich mich aber erinnern.
Im Wald fällt uns die Auszeit am einfachsten. Der Hainich Buchenurwald liegt etwa 10 km nordwestlich von Eisenach und ist Teil des Unesco Weltnaturerbes der Buchenurwälder Europas mit Waldgebieten von Spanien im Westen und der Ukraine im Osten. Zusammen mit ihrer Gastfamilie ging Hündin Polly zum Waldbaden in den Hainich. Ein guter Startpunkt ist die Hainichbaude am südlichen Rand des Nationalparks. Wie immer natürlich auch als gastronomische Auszeit mit bayrischer Hüttenatmosphäre mitten in Thüringen.
Überzeugend , wenn alles zusammengeht. Der Genius Loci aus Architektur, Interior Design und Atmosphäre. So erlebt auf dem Museumsgelände im Schlosspark Maarjamäe etwa 5 Kilometer vor Tallin. Wenn das Tisch- und Food Design und das Lächeln auf dem Gesicht der Kellnerin zusammenpassen, dann ist die Stimmung perfekt. Was noch fehlt, findet man im Park und in den Ausstellungen. Witzige Exponate und spannende moderne Architektur, die den behutsam sanierten historischen Gebäuden auf Augenhöhe gegenübersteht. Schöne Momente geschehen interessanterweise immer dann, wenn die Erwartungshaltung eine andere ist. So geschehen im Café des Teatro la Fenice – Venedig. Der Cappuccino war nicht teurer als in einem einfachen Straßencafé und wir saßen unter einem imposanten Kronleuchter mit Ensemblemitgliedern am Nebentisch. Dass Auszeit nicht bedeutet, parallel mit 30 cm Abstand auf einem Handtuch in der Sonne zu glänzen, zeigt der Impressionist Isaac Israels 1906 mit seiner Szene am Strand von Viareggio.
Die St. Petri-Kirche Lübeck (1170) wird vorwiegend als Kunst- und Kulturkirche genutzt, während religiöse Veranstaltungen und Gottesdienste eher selten an besonderen Terminen stattfinden. Im Eingangsbereich empfängt das Café mit Blick in das Kirchenschiff und die dort ausgestellte Kunst. Auf dem grünen Kirchhof entspannt man bei schönem Wetter. Das Kloster Drübeck ist ein ehemaliges Nonnenkloster der Benediktinerinnen mit urkundlicher Erwähnung von 960. Nur 5 Kilometer vom Tourismuszentrum Werningerode entfernt, liegt eine angenehme Stille auf diesem Ort. Mit umfangreichen Fördermitteln wurden die Gebäude und Außenanlagen von 2015 bis 2021 grundlegend saniert und umgebaut. Als Tagungs- und Fortbildungsstätte der evangelischen Landeskirche Mitteldeutschlands am Harzer Klosterwanderweg werden die kirchlichen Nutzungen durch gastronomische Angebote und einen Hotelbereich für externe Gäste ergänzt. Beliebt bei Wander- und Fahrradtouristen. Jeder findet hier seinen Rückzugsort. Entweder unter der 300 Jahre alten Klosterlinde oder als Leseplatz in den Gärten der Stiftsdamen.
Was haben Restauratoren mit Restaurants zu tun? Auch sie arbeiten mit Rezepten. Beim Besuch im Restaurant Café Hirsch in Halberstadt spielte der Restaurator eine besondere Rolle. Halberstadt glänzt nicht gerade mit kulinarischer Qualität. Der Hirsch war da eine angenehme Überraschung.
Schon im Studium wurde davor gewarnt, dass man sich als Architekt nirgendwo ungestört und entspannt bewegen könne, besonders nicht auf Reisen. Denn der eigene Anspruch und die fachliche Neugier reise immer mit. Die gebaute Umwelt ist schließlich überall. Auch beim Essen. Von der Rückseite des Restaurants hörte man undefinierbare Geräusche. Durch den Hinterausgang des Gastraumes schaute ich um die Ecke. Ein Restaurator arbeitete mit seinem Team am Sandstein einer hohen Bruchsteinmauer. Die Gruppe aus Teilnehmern des Projektes European Heritage Volunteers sicherte unter fachlicher Anleitung hinter dem Restaurant die Reste einer barocken Synagoge.
Bei handwerklichen Sanierungen an historischem Mauerwerk werden zerstörte Mörtelfugen einfach ersetzt. Hier sei das aufgrund der Bedeutung des Denkmals restauratorisch aufwendiger, so wurde mir erklärt. Originales Fugenmaterial wird mit Kalkinjektionsmörtel hinterspritzt, so erhalten und stabilisiert. Das ehemalige Kantorhaus, in dem sich das Restaurant befindet, stammt aus dem 18. Jahrhundert. Sein Tordurchgang war der Hauptzugang zur barocken Synagoge, die versteckt hinter den Vorderhäusern lag. Im Durchgang erinnert das Kunstprojekt Und der Lebende nehme sich das zu Herzen an die zerstörte Barocksynagoge. Im Keller des Vorderhauses befindet sich noch die Mikwe, ein Ritualbad.
Das gutbürgerliche München scheint in seinen gediegenen und aufgeräumten Wohnvierteln wenig Platz zu haben für Orte, die direkt aus Träumen entstiegen sind. Damit meine ich nicht die sehr schönen Naturparks, die München besitzt, sondern von Menschen hergestellte Stadträume, die Konventionen auch mal verlassen. Denn welcher Traum hat schon Konventionen. München ist eher das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, die gute Stube unter den deutschen Großstädten und weniger Experimentalraum. Einen dieser Orte gibt es allerdings doch zwischen Schlachthofviertel und Bahnhof München Süd. Die Touristenströme haben ihn noch nicht erreicht und er könnte auch nach Berlin oder Hamburg gehören. Und so ist es wieder die Graffitikunst, die das Gesamtkunstwerk der getürmten Überseecontainer und gestapelten Straßenbahnen auf der Kulturstätte Bahnwärter Thiel zusammenhält.
Stahltreppen verbinden die Ateliers, Werkstätten und Sonnenterrassen. Urban Gardening, Discokugeln und Knutschautomaten sorgen für den Wohlfühlfaktor. Über das künstlerische und kulturelle Veranstaltungsprogramm und die lebendige Nutzung mehr auf der Homepage. Das Bahnwärter Thiel Gelände in München hat mich irgendwie an die Halbinsel Refshaleøen im Hafen von Kopenhagen erinnert. Sie steht ähnlich alternativ zu den Touristen Hotspots. In München durch Zufall gefunden, in Kopenhagen vorher recherchiert und mit local guides erkundet. Auch in Kopenhagen genügen die einfachen Bänke und Buden vor der Wasserkante und Stadtkulisse. Dazu gab es an den Garküchen frische indische Gerichte. Ebenfalle auf dem Gelände steht ein Modelldorf des Projekts CPH Village für Apartments in Containern. Mehr Infos über den Link
Wenn ich zu neuer Architektur sehr viele Bilder einstelle, dann bin ich wohl begeistert. Naja- vielleicht ein wenig trist fand ich trotz der gelben Stühle das Bistro im Innenhof. Der dort neu gepflanzte zentrale Baum muss einfach schnell größer werden. Nicht zufällig liegt das neue Volkstheater München (2018-2021 – Architekten LRO Lederer Ragnarsdóttir Oei) auf dem ehemaligen Schlacht- und Viehhofgelände in direkter Nachbarschaft zum Bahnhofswärter Thiel Gelände. Schlachthof und Kultur schließen sich nicht aus. Das Schlachthofviertel ist eine kulturelle Keimzelle Münchens. Ich muss mich ja ständig wiederholen , weil in der Architektur die guten und die schlechten Angewohnheiten auch immer wieder auftauchen.
Die neuen Institutsbauten der Uni Hannover habe ich wegen ihrer Eindimensionalität von Baukörper und Fassade besonders kritisiert. Das Volkstheater München ist dagegen eine architektonische Skulptur aus konvexen und konkaven Kurven, Schwüngen, Bögen und Vorsprüngen, die das Gebäude wie eingepflanzt und verwurzelt auf dem Grundstück stehen lassen. Dazu die tolle Fuge zwischen Alt- und Neubau. Bauherren, die auch plastisch bauen wollen, können sich ja mal die Referenzen auf der Homepage der Architekten anschauen. Die Bauabteilung der Universität Hannover soll angeblich auch schnelles Internet besitze
Unser Sensorium ist für die Strahlkraft der Volumen, wie sie die Architektur der Frühkulturen in so hohem Maße besaß, wieder besonders empfänglich geworden. Architektur nähert sich der Plastik, Plastik nähert sich der Architektur.
Sigfried Giedion – Ewige Gegenwart 1964