Historische Gebäude verschwinden und neue Bauten entstehen. Der Lauf der Geschichte. Die Denkmalpflege schützt dabei einen Teil der historischen Bauten im öffentlichen Interesse aller. Soweit kurz und frei formuliert das Ziel des Denkmalrechts. Das empfinden einige Denkmaleigentümer als ungerechtfertigten Eingriff . Dieses Empfinden trügt nicht. Allerdings muss es heißen gerechtfertigt.
Denn die Denkmalgesetze nehmen den Paragrafen 14 des Grundgesetzes zum Recht auf Eigentum wörtlich. Eigentum soll auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Diese Rechtsauffassung von Eigentum zum Gemeinwohl war in den antiken Gesellschaften der Römer und Griechen für alle freien Bürger selbstverständlich. Zugegeben, es gab auch Unfreie, für die galt das nicht. Im heutigen Bürgerlichen Recht und in Zeiten des Finanzkapitalismus ist die Verbindung von Eigentum und Gemeinwohl schon fast vergessen und nur noch in Nischen vorhanden. Eine Denkmaleigentümerin fragte mich mal, ob ich Kommunist sei und sie enteignen wolle. Ich habe ihr dann das Grundgesetz erklärt. So wird die unschuldige Denkmalpflege in ihrem öffentlichen Interesse plötzlich zum sozialistischen Gedanken.
Man kann den bewahrenden, baukulturellen Gedanken natürlich auch erstmal in den Hintergrund stellen und zur Qualitätsfrage kommen. Bei gleichbleibender, architektonischer und stadtplanerischer Qualität könnte man Bauten im Laufe der Geschichte regelmäßig austauschen, abreißen und wieder neu bauen. Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung, zerstöre mit Verstand (Luigi Snozzi). Architekturfakultäten, die Generationen von Architekt(en)innen auf Neubau fokussiert haben, lehren neuerdings kontextuelles Entwerfen zum Weiterbauen im Bestand. Kultur in Baukultur kommt übrigens von colere (lateinisch: pflegen). Aus der Filmdokumentation der Karnevalsband de Höhner stammt das Zitat zu der erfolgreichen Bandgeschichte:
[…] Neues zu schaffen ohne das alte darin zu verlieren.
50 Jahre Höhner – von Köln in die Welt
(WDR Dokumentation 2023)
Man muss Karneval nicht mögen, aber die Logik die hinter der sehr alten Karnevalskultur steht, kann man wahrnehmen und übertragen.
Die Formenwelt der Architektur ist nicht erfunden worden, sondern Sie ist gewachsen. Sie wurzelt vor allem tief in den Wurzeln menschlicher Kultur, die wir als primitive zu bezeichnen pflegen. (…) Man kann den Schatz solcher Erinnerungsbilder anreichern, aber niemals mit einer Formensprache nach eigner Erfindung von vorn anfangen. Es fehlt ihr dann die wesentlichste Grundbedingung, die triviale Selbstverständlichkeit.
Friedrich Ostendorf – Sechs Bücher vom Bauen – Erster Band. Einführung 1913
Simultan tragen wir das Erbe der Vergangenheit und die neuen Komponenten der Zukunft in uns.
Sigfried Giedion – Ewige Gegenwart 1964
Gemeint ist die sogenannte, gemeinsame Architektursprache, die alle sprechen und verstehen sollten. Architekten fühlen sich aber oft unverstanden. Warum wohl?
Also ist Architektur weiterentwickeln kreativ und gut, aber kommt der hohe Anspruch der Hochschulen auch in der Alltagsarchitektur an? Also mal direkt hingeschaut auf die Institutsgebäude der Universität Hannover. Da diese zugangsbeschränkt sind, beschränke auch ich mich auf die Qualität der Fassaden. Die innere Organisation und Funktionalität müssen die Nutzer beurteilen. Im Zentrum des Uni Campus in Hannover an der südlichen und östlichen Kante eines größeren Parkplatzes stehen zwei Institute im Lieblingsgrau der Architekten. Modedesigner würden sagen, eine Variation in hell und dunkel. Die Entwerfer setzen das Gebaute unter Oberflächenspannung. Man spannt eine Haut über den Innenraum und setzt die Öffnungen in grafische Proportion. Da taucht schon die erste Frage auf. Was unterscheidet den Architekten vom Grafiker? Ganz eindeutig der dreidimensionale Raum, zentrales und wichtigstes Entwurfsthema der Baukunst.
Moderne Fassaden sind selten plastisch und dreidimensional. Man hängt meist Bauteilschichten als Flächen übereinander. Das hellgraue Gebäude im Fliesenglanz ist das Biomolekulare Wirkstoffzentrum der Universität. Der Entwerfer fand Fliesen offenbar gut. Entwerfer mit Vorliebe für Fliesen gab es allerdings schon vor 120 Jahren. Das Grüne Haus in der Sextroststraße (erbaut 1899 – Südstadt Hannover) hat endlos viele Keramikformteile, die Plastizität erzeugen. Das bekommt man für ein Institutsgebäude im Kostenmanagement natürlich nicht umgesetzt. Aber eine graue Keramikfliese in einem einzigen Format in Fläche gesetzt? Die dauerelastische Wartungsfuge zwischen den beklebten Fertigteilen ist konstruktiv recht anspruchsvoll und hält sicher nicht 120 Jahre. Manchmal bleibt man sprachlos und sucht dann schnell woanders nach Worten . Der renommierte Architekturtheoretiker und Journalist Niklas Maak nennt derartige Erscheinungen pragmatische Hässlichkeit. Auf dem Campus direkt gegenüber dem Laboratorium für Nano- und Quantenphysik liegt der historische Pferdestall des Königlichen Ulanen Kavallerieregiments. 1877 mit Kreuzgratgewölben erbaut, dient der Pferdestall heute als Begegnungs- und Veranstaltungszentrum der Universität Hannover. Deutlicher kann man den Materialkontrast von gestern und heute mit der warmen Ziegelfassade auf der einen und silbergefasstem Anthrazit auf der anderen Seite nicht erleben.
Das Institut für Gravitationsphysik ein paar Meter weiter wirbt auf rotem Banner mit dem Slogan Einstein weiterdenken. Es gab mal eine Zeit, die hatte den Ehrgeiz, diese Kreativität auch nach außen über das Gebäude darzustellen im Sinne von Schinkel weiterdenken. Der plakativ beanspruchte Albert Einstein hatte eine etwas andere Vorstellung von Architektur als die Uni Hannover heute. Selbst sein bescheidenes Sommerhaus in Caputh (Havelland-Brandenburg), das er von 1929 -1932 vor seiner Emigration in die USA bewohnte, lässt das erahnen. Einstein beauftragte für den Bau den damaligen Meister des Holzsystembaus und Pionier der industriellen Vorfertigung Konrad Wachsmann. Aber das ist eine andere Geschichte.
Architektur zeigt den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Besonders wenn sich Veränderungen vom Kommunismus zur westlich Wirtschaft in sehr engen, komprimierten Zeiträumen vollziehen wie in den baltischen Staaten. Im Stadtviertel Tartari in Tallin sieht man dies besonders an den Maßstabssprüngen von den historischen Holzhäusern des 19. Jahrhunderts zu den Gebäuden des Turbokapitalismus Endes des 20. Jahrhunderts.
Im heutigen Univiertel der Nordstadt wurde im Zweiten Weltkrieg ein Großteil der Gründerzeitbauten zerstört. Die Baulücken wurden dann in den Nachkriegsjahren wieder aufgefüllt und später mit Wärmedämmung optimiert. So wie hier in der Asternstraße sieht Alt neben Neu dann aus. Sicher kein Argument für neues Bauen. Viele Straßenzüge sind glücklicherweise der Zerstörung entgangen und so kann man in der Appelstraße noch bewundern, wie die Räumlichkeit der Fassaden sich mit dem Straßenraum verzahnt.
Wenn man sich das historische Chemieinstitut der Uni Hannover anschaut, in dem die anorganische Fachrichtung untergebracht ist und staunt, wie die schmiedeeisernen Pflanzen neben den echten Bäumen wachsen und auch im Inneren die Treppenläufe hochranken, dann traut man sich nicht nach dem modernen Ergänzungsbau der organischen Chemie zu fragen. Wer möchte, kann aber vor Ort kurz um die Ecke schauen. Die Farbe der dort vorgehängten Fassadenplatten brauche ich hier nicht zu erwähnen und sicher auch nicht zu zeigen. Während die geschmiedeten historischen Fabelwesen lustige Laune verbreiten, bleibt die Stimmung am benachbarten Neubau grau.
Versöhnlich dagegen ist die Architektursprache des Studentenwerks Hannover, die trotz Kostenzwang in der Materialwahl, den Texturen, Farben und Fassaden Qualität hat. Die Studentenhäuser am Berggarten mit strukturierten Holzfassaden und farbigen Fenstereinschnitten zeigen zur Identifikation der Bewohner jeweils farblich unterschiedliche Innenraumkonzepte.
Das Studentenhaus Bahlsen am Rande des Uni Campus nimmt mit den Gesimsen, Dachaufbauten und Öffnungsbreiten Bezug auf die historisch geprägte, großbürgerliche Bebauung der Wilhelm-Busch-Straße. Übrigens nur teilweise Neubau, sondern auch Sanierung und Modernisierung eines 50er Jahre Gebäudes.
Der Vergleich mit der früher ambitionierten Architektur der Uni Hannover aus den späten 50er Jahren bis in die Postmoderne zeigt besonders deutlich den Qualitätsverlust der heutigen Bauten. Die Materialien des Audimax (Anbau zum Welfenschloss von 1958) und die Verwaltungsbauten aus den 80er Jahren schaffen es noch mühelos sich in die Materialität der historischen Sandsteinfassaden zu integrieren.
Die Technische Informationsbibliothek (1964 Architekt Kurt Krüger) ist mein Lieblingsgebäude auf dem Uni Campus. Eine relativ einfache, vorgehängte Struktur aus brünierten Metallprofilen mit Sonnenschutzverglasung und ein leicht zurückgesetztes Erdgeschoss erzeugen Plastizität und Gliederung . Architekturzwilling des Landtages in Baden Württemberg (1961) von Horst Linde. An sonnigen Tagen bemalen die Bäume des angrenzenden Welfengartens die Glasflächen mit ihrem gespiegelten Muster. Ein derartiges Zusammenspiel von Fassade und Natur geling der Uni heute nicht mehr.
Ein Sprung in die Wasserstadt Limmer. Hier hat es der Investor inzwischen geschafft, die historischen Gebäude der ehemaligen Continental Gummiwerke fast vollständig verschwinden zu lassen. Auch das letzte Gebäude, auf den Fotos im Hintergrund noch sichtbar, muss den neuen Klinkerklötzen weichen. Geblieben ist der Conti Turm als Wahrzeichen oder Landmark, wie man das inzwischen nennt. Eine Millionen Euro Sanierungskosten als Schmerzensgeld und Abfindung für eine verloren gegangene Industriegeschichte.