Antwerpen – eine wilde Mischung aus Mittelalter, Art déco, Nachkriegsmoderne und aktueller Architektur. Schmale, tiefe und hochaufragende Häuser, Innenhöfe. Zwischen den alten Mauern Kunst, Antiquitäten, Design und Mode. Alles überragend der Turm der gotischen Kathedrale , seit 500 Jahren unverändert. Immer im Bild, egal wo man steht. Viele Baustellen – die Stadt bewegt und verändert sich.
Begleitet von Erinnerungen aus Gent und Brügge waren wir in der größten Stadt Belgiens unterwegs. Einiges ist vergleichbar. Wie Gent ist Antwerpen eine historisch versteinerte Stadt mit der alles dominierenden Kathedrale. Ein sehr dicht bebautes, mittelalterliches Zentrum, das an einigen Stellen gesprengt wird durch moderne Universitäts-, Museums- und Bürogebäude. In einem verspielten Jugendstil und Art déco hat sich die Stadt einige Jahrhunderte später etwas lockerer gemacht. Sichtbar in vielen schönen Straßenzügen um die Altstadt. Auch die Nachkriegszeit und Postmoderne haben mit ihren nicht immer glücklichen Ergänzungen Spuren hinterlassen.
Die intime Stimmung der Brügger und Genter Kanäle fehlt. Das offene Kanalnetz wurde im 19. Jahrhundert wegen der unhygienischen Abwasserführung überwölbt und geschlossen. Dafür ein beeindruckender Panoramablick auf die Stadt vom gegenüberliegenden Ufer der Schelde. Vergleicht man die aktuelle Ansicht mit dem Stich aus dem 16. Jahrhundert wirkt die Stadt heute in der Totalen deutlich weniger homogen und mehr in Epochen geschichtet. Überall sichtbar die hohe Qualität im Design. Dieses besondere Gefühl für Mode, Möbel und Innenräume zeigt sich deutlicher als in Gent und Brügge. Antwerpen als Zentrum des mittelalterlichen Tuch- und Pelzhandels folgt hier der eigenen Geschichte und Tradition. Hinter den oft etwas heruntergekommenen historischen Fassaden leuchten die gestalteten Innenräume. Bewegt man sich aus der Innenstadt heraus, deutliche Kontraste. Palastartige Stadtvillen des Historismus und Jugendstil in wohlhabenden Vierteln wie Markgrave, aber auch viel unsanierter Leerstand.
Anstrengenden Tourismus mit entsprechenden Restaurants und Läden findet man im direkten Umfeld der Kathedrale. Sonst lebt Antwerpen den geschäftlichen und privaten Alltag einer Großstadt mit internationalen Einflüssen und einem multikulturellen Straßenbild neben dem zweitgrößten Hafen Europas.
Bitte keine Missverständnisse. Dass ich gutes Shop Design mag, bedeutet nicht endloses Konsumverhalten. Wir schauen nur sehr gerne und betrachten die schönen Räume. In Antwerpen haben wir kein einziges Möbel gekauft. Auch keine Mode oder Diamanten aus den Touristenshops am Hauptbahnhof. Wir waren ja wegen der Stadt gekommen. Das Angebot zu Mode, Antiquitäten, Kunst und Möbeln ist allerdings auffällig groß. Die Versuchung sitzt immer auf der Schulter. Wer sich ihr hingibt, sollte dann allerdings ein paar Tage einplanen. Vertreten sind auf der Haupteinkaufsstraße Meir alle internationalen Labels , die exklusiven Anbieter mit Flagshipstores und individuelle interessante Stores in den Nebenlagen. Eigentlich alle Marken, die man aus Deutschland kennt und dann nochmal gefühlte fünfzig dazu, die man nicht kennt – eine Modestadt. Interessant sind die Kammenstraat, Nationalestraat und Klosterstraat. Gutes Shop Design findet sich nicht nur in den Verkaufsräumen sondern auch in den Außenwerbungen. Etwas mit dem viele deutsche Einzelhändler so ihre Probleme haben. In Antwerpen sind selbst die Handy Shops grafisch gut gestaltet.
Das Shopping Center Stadsfeestzaal liegt direkt an der Meir. Ein ursprünglich 1908 errichtetes neoklassizistisches Gebäude, das 2000 fast vollständig abbrannte. Die Restaurierung ist gelungen, das Nutzungskonzept weniger. Eine merkwürdige, kommerziell aufgeladene und künstliche Atmosphäre begegnet dem Besucher. Ein kurzer Rundgang und einmal von der Galerie hinunterblicken reicht völlig aus. Ich fand den Raum durch die Art der Nutzung eher unangenehm.
Ein besonders Marketing Konzept in der Drukkerijstraat ist noch erwähnenswert – Lynk und Co. Die Autoindustrie verkauft seit Menschengedenken Fahrzeuge. Nicht mit rationalen Argumenten, das geht ja auch gar nicht, sondern über Lebensgefühle und Emotionen wie Freiheit, Glück und Spieltrieb. So neuerdings Lynk & Co. Das Modell Lynk & Co 01 ist eigentlich ein Hybrid mit kombiniertem Elektro- und Benzinantrieb, der in China gebaut wird. Die Sales Managerin im Showroom Antwerpen erklärte uns engagiert das Joint Venture der schwedischen Marke Volvo mit dem chinesischen Hersteller Geely. Die Erklärung ist allerdings etwas ungenau, denn die Mehrheitsanteile von Volvo gehören inzwischen dem chinesischen Konzern. Also macht der ein Joint Venture mit sich selbst und versucht das Lebensgefühl der Europäer zu treffen. Der Showroom ist laut Unternehmenskonzept auch keine Autoausstellung sondern ein Club für Gleichgesinnte mit einem gemeinsamen Lebensgefühl! Die Lynk & Co Clubs gibt es inzwischen in allen angesagten und trendigen europäischen Großstädten. Das Auto steht dort immer nur wie beiläufig daneben. Angeboten werden Fair Trade Kaffee, coole Fahrräder, nachhaltige Lifstyle Produkte wie Öko Textilien, Yoga Kurse und WLAN. Alles da für die Urban Natives, die eigentlich kein Auto brauchen. Nichts gegen eine Vorliebe für ästhetisches und originelles Shop Design. Die Verkaufsstrategie dahinter ist aber das eigentlich interessante.
Einen etwas faden Nachgeschmack hinterlassen die 36 Euro Eintritt für die Liebfrauenkathedrale. Sie ist immerhin eine christliche Kirche und wir sind alle (noch) Kirchenmitglieder. Die Katholische Kirche verhält sich immer etwas auffällig. Wir kennen das. Und da ist natürlich die aufwändige Instandhaltung. Zusätzlich dann noch eine Spende für jede Kerze und eine milde Gabe in den Opferstock. Der Ablasshandel vergisst nichts. Die Mitarbeiterin an der Kasse erklärt etwas unverständlich in Englisch, warum ein deutscher Schüler den vollständigen Preis zahlen muss, belgische Studenten dagegen grundsätzlich ermäßigt sind.
Sind wir nicht alle Europa? Belgier dürfen doch auch umsonst in den Kölner Dom. Und der hat mindestens eine ähnlich aufwändige Bauunterhaltung. Der Name Liebfrauen gilt also nicht an der Kasse.
Das Bauwerk ist imposant, Weltkulturerbe und das zentrale und höchste Gebäude der Stadt, keine Frage. Man bewundert die Konstruktion und doch ist da immer der zweite Gedanke: Gebäude dieser Art hätten ohne Ausbeutung nie entstehen können. Aber das gilt natürlich auch für den Kolonialismus in Afrika, der Antwerpen reich machte.
Der Hauptbahnhof Antwerpen (1899/1905) ist eine beeindruckende Eisenbahn Kathedrale. Diesmal ist der Eintritt und der Blick auf die Gewölbe und die Glasdachkonstruktion frei. Auch für den historischen Fahrrad- und Fußgängertunnel Sint Anna unter der Schelde ist das Erlebnis auf den historischen Holzrolltreppen umsonst. Ein entspanntes Rattern aus vergangenen Zeiten. Viele Berufspendler wechseln hier von den Wohnvierteln auf der anderen Seite der Schelde in die Innenstadt. Wer den Alten Elbtunnel in Hamburg kennt und vergleichen möchte: Die Tunnelröhre in Antwerpen ist mit 572 Meter etwa 150 Meter länger.
In Hamburg gibt es zwei Röhren, schönere Ornamentfliesen und der Historismus ist künstlerischer als die belgische Sachlichkeit der 30er Jahre. Hunde sollten wegen der Verletzungsgefahr auf der Rolltreppe getragen werden. Die einzige Röhre für beide Richtungen führt zu abenteuerlichen Begegnungen von belgischen Fahrradfahrern mit orientierungslosen Touristen. Deshalb fährt die belgische Polizei regelmäßig Fahrradstreife und ermahnt bei überhöhter Geschwindigkeit. Vor dem altstadtseitigen Eingangsgebäude zum Tunnel spielen die Belgier Basketball. Auch hier wieder öffentlicher Raum mit Begegnung für alle.
Das prächtige Stadtpalais und heutige Museum Plantin-Moretus war Geschäfts- und Wohnsitz der Familie Plantin-Moretus. Wegen der nahezu unveränderten Werkstatt-, Atelier-und Wohnräume, der wertvollen Bibliothek und des einzigartigen Archivs wurde der Museumskomplex 2005 in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen. Der Blick in die Gartenanlage zeigt die ganze Dimension des Gebäudes. Man taucht ein in die Geschichte der über Generationen wirtschaftlich sehr erfolgreichen Familie. Den Grundstein für diesen Erfolg legte die zentrale Person und Gründer der Druckerdynastie Christophe Plantin (1520–1589). Allein sein Wirken und seine Persönlichkeit haben den rasanten Aufstieg des Unternehmens erst möglich gemacht. Auf der Homepage des Museums wird er als ein Intellektueller und Humanist mit Geschäftssinn und als ein einzigartiger Drucker mit Visionen beschrieben, der das Unternehmen mit Gründung im Jahr 1555 zur größten industriellen Druckerei der Welt aufbaute. 80 Arbeiter arbeiteten an etwa 20 Druckstöcken. Das funktioniert nur mit Networking, Kommunikation und fachlicher Kompetenz. Plantin machte die Druckerei zum Verlag und Treffpunkt von Wissenschaftlern, Gelehrten und Intellektuellen seiner Zeit. Ein Thinktank zu dem auch Peter Paul Rubens als Freund der Familie gehörte.
Ich war etwas neidisch. Nicht auf diese Erfolgsgeschichte oder den Reichtum, sondern auf den komplexen, vielschichtigen und vielseitig gebildeten Charakter.
Wenn wir heute im Rückblick die bahnbrechende Erfindung der industriellen Buchdruckerkunst mit der Einführung des world wide web gleichsetzen, dann fällt auf, dass in den Strukturen der digitalen Unternehmen nicht gerade der gebildete Humanismus eines Christophe Plantin zuhause ist. So wie Christophe Plantin das Handwerk der Druckkunst, die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens und seine humanistische Bildung in einer Person vereinte, wünsche ich mir mehr komplexe Persönlichkeiten, die die zu bewältigenden Probleme unserer Zeit in Theorie und Praxis zusammenbringen und Lösungen pragmatisch umsetzen. Diese Universaltalente mit Idealen findet man heute weder in den ausschließlich neoliberal profitorientierten Börsenunternehmen, noch in den Spezialwissenschaften der Universitäten, oder an den Schulen, die die humanistische und naturwissenschaftliche Bildung traditionell für sich beanspruchen, den Gymnasien. Deshalb fallen uns komplexe und realisierbare Lösungen wie zum Beispiel in der Klimafrage wahrscheinlich auch so schwer. Wissen in den Trichter schütten reicht einfach nicht. Über die Abstraktion der Politik rede ich lieber nicht.
Von diesen etwas abschweifenden Gedanken, die mich überflogen, als ich Christophe Plantin virtuell im Museum begegnete, zurück zur Ausstellung. Sehr ästhetisch visualisiert fand ich die Video Clips zur historischen Drucktechnik. Tolle Ergänzung zur praktischen Vorführung in der Werkstatt der Museumspädagogik.
Das Mas Museum (Eröffnung 2011) vom Gewinner des Architektenwettbewerbs dem Büro Neutelings Riedijk liegt in exponierter Lage weithin sichtbar als 60 Meter hoher Museumsspeicher im Stadtteil Eilandje zwischen der Innenstadt und dem Hafenareal. Die Architektur des Museums könnte so auch in den Niederlanden stehen. Was fällt mir dazu ein? Welche Fragen stellen sich dem Betrachter? Eigenwillig und interessant! Aber auch schön? Und warum hier und warum so? Ich sollte mir diese Fragen abgewöhnen und einfach mal entspannt hineingehen. Die gewellte Fassade aus gläsernen Halbschalen steht für die interessante Eigenschaft. Das Konzept, die geschlossen eingestellten Ausstellungsboxen mit Fernblick und Aussicht zu umrunden, liefert das eigentliche Raumerlebnis und ist die zentrale Gebäudeidee. Die sogenannte Spiralgalerie ist als öffentlicher Bereich zusammen mit dem Museumsdepot auf der 2. Etage ohne Museumseintritt begehbar. Eine gute Idee, die Schwelle für den kulturellen Elfenbeinturm Museum zu senken und einen öffentlichen Ort für alle zu schaffen.
Der Panoramablick über die Stadt vom rooftop auf der obersten Ebene ist extrem spektakulär. Weitere besondere Raumqualitäten im Gebäude habe ich für mich allerdings nicht entdecken können. Das spannende Erlebnis, die gläserne Galerie vom Foyer bis zum rooftop zu erwandern, wird durch die inneren Ausstellungsboxen nicht gesteigert. Man findet stimmungsvolle und angenehme Lichtszenografie in den Ausstellungen aber keine außergewöhnlichen Präsentationen. Gezeigt werden in Dauerausstellung Themen aus der Stadtgeschichte Antwerpens und des Hafens. Sehr persönlich und direkt anhand von Einzelschicksalen erzählt die Ausstellung Stadt im Krieg. Antwerpen, 1940-1945 über die deutsche Besatzungszeit, den nationalsozialistischen Terror und die Judenverfolgung in der Stadt.
In der Modestadt Antwerpen gibt es natürlich auch ein Modemuseum, das MOMU. Die große Dauerausstellung war leider bis zum Ende des Monats wegen Umbau geschlossen. Uns blieb nur die sehr kleine Sonderausstellung. Etwas enttäuschend, auch wenn sich die Museumsarchitektur mal wieder sehr ästhetisch mit einem expressiven Foyer zeigte.
Fast alle interessanten Ziele in Antwerpen sind in Altstadtnähe und von dort schnell zu Fuß erreichbar. Die etwas größeren Entfernungen lassen sich gut mit der Straßenbahn erreichen. Das Kunst-, Kultur- und Veranstaltungszentrum De Singel mit Schwerpunkt auf Architektur, Tanz, Musik und Theater liegt etwa 3 km außerhalb des Zentrums. Der Komplex wurde bereits 1980 eröffnet und 2011 nochmal erweitert. Über die vielfältigen Events und Termine kann man sich im online Kalender informieren. Wir sind spontan mit der Tram hingefahren und haben uns das Gebäude angeschaut. Die Lage ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Ein Nichtort zwischen Autobahnen und Schnellstraßen. Also besser im interessanten Gebäude bleiben, sich dort umschauen oder ein Konzert besuchen. Nicht nach draußen gehen!
Der nächste menschliche Ort, den man auf dem Rückweg in die Innenstadt schnell erreichen kann, ist das nördlich angrenzende noble Viertel Markgrave. Hier begegnet man dem vergangenen und gegenwärtigen Reichtum von Antwerpen und läuft vorbei an hochherrschaftlichen Stadtpalästen der Jahrhundertwende. Die Immobilien werden natürlich standesgemäß über die Real Estate Abteilungen von Sotheby’s und Christie’s vermarktet. Neugierig geworden habe ich mal online in einige Exposes hineingeschaut.
Die Sint Laurentiuskirche (1932-1941 – Architekt Jef Huygh) in Markgrave ist eine exotische Architekturmischung aus Art-Deco und neobyzantinischen Stilelementen, die man auf den ersten Blick bauhistorisch nicht einordnen kann.
Königliche Akademie der Schönen Künste Antwerpen (ap-arts.be)
Und am Ende noch ein paar versöhnliche und unversöhnliche Worte zu den kulinarischen Erlebnissen. Auf hohem Niveau und überall präsent natürlich die belgische Schokolade, Waffeln, Pralinen und die Bierkultur. Daneben wird es aber auch in Antwerpen im mittleren Segment zwischen der belgischen Sternegastronomie und den Fast Food Angeboten qualitativ etwas dünn. Eine Erfahrung, die wir schon aus Gent und Brügge mitbrachten. So geschehen diesmal in der Brasserie Bar Berlin im Viertel Theaterbuurt. Ich bekam für 9 EURO das schlechteste Bruschetta meines bisherigen Lebens. Anmerkung: Zum Zeitpunkt der Bestellung war ich 56 Jahre alt. Das habe ich dem Service auch genauso gesagt. Er nahm das mit einem kurzen Nicken und keiner weiteren Reaktion zur Kenntnis. Es war ihm egal. Wir haben dort also das Innenraumdesign bezahlt und nicht das Essen. Eine eindeutige Empfehlung gibt es für das Goesting im Schipperskwartier und das Dansing Chocola im Sint Andries Quartier. Beide nicht nur für den Blick unter die Decke, sondern auch für Essen, Atmosphäre und Freundlichkeit.
Unser Apartment im zentralen und ruhigen Sint Andries Viertel war für die Stadterkundung ideal. Ein typisches, sehr schmales und hohes Antwerpener Stadthaus mit steilen Treppen und Lichthof. Authentisches Wohnen mit Panoramafenster und Blick bis zum Turm der Kathedrale.
Das Zuidpark Projekt ist die Konversion einer ehemaligen Dockanlage des Hafens parallel zur Schelde aus dem 19. Jahrhundert, die durch die Verlagerung des Hafens nach Norden ihre Funktion verlor und später als Parkplatz genutzt wurde. Die Parkplätze werden im Zuge der Neugestaltung unter die multifunktionale grüne Parkanlage in eine Tiefgarage verlagert.
Fazit der Reise: Antwerpen ist eine tolle Alternative zu Amsterdam. Dort ist das Essen ja auch nicht besser und vielleicht folgt nach Gent, Brügge und Antwerpen irgendwann noch Brüssel in Folge 4.