StadtGesichter

Ganz selten zeigen sie sich an moderner Architektur. An historischen Fassaden entdeckt sie oft erst der zweite Blick: Figuren und Gesichter in Stein, Metall oder Holz. Auge in Auge ist man fasziniert, erschrocken, ergriffen oder amüsiert. Die Begegnung folgt keiner kunsthistorischen Logik.

Es ist kein typischer Neidkopf, der da mit goldenem Anlitz friedlich versonnen aus der Giebelbekrönung der Weserrenaissancefassade in Hameln herausschaut. Denn diese sollten mit ihren eher fratzenhaften Gesichtszügen abschrecken und das Böse vom Haus abwehren. Wie immer ist das eine von meinen Gerüstaufnahmen. Eine seltene Gelegenheit, den Gesichtern sehr nahe zu kommen. Den Löwen mit Schneehaube vor der Universität Hannover scheinen die niedrigen Temperaturen zu nerven. Vor den Toren der alten Feuerwache Neuruppin warten die Feuerwehrmänner auf ihren nächsten Einsatz. Zur Sanierung der Schlossanlage Sanssouci waren die Skulpturen in Potsdam vom Gesims herabgestiegen und begegneten den Besuchern auf Augenhöhe. Nur zögernd folgt man der Einladung der beiden Löwenköpfe in Tallin. In Görlitz vertraut der Gaukler friedlich lächelnd jedem, der vor der Haustür steht.

Während die Wasserwesen auf den Konsolen der Stralsunder Ziegelfassade neugierig und entspannt das Hofgeschehen beobachten, verrenkt der Helmträger wachsam seinen Hals. Wie gegensätzlich die Blicke in Hameln sind. Der eine schmerzverzerrt und eingezwängt zwischen den Balken des Fachwerks, dagegen träumerisch mit freiem Blick in die Ferne, die beiden Sandsteingeschwister an einer Villa. Ein Faun, in Blech geprägt, starrt von einer Schranktür. Von oben herab am Figurentheater in Lübeck faucht der Drache. Als Besucher auf dem Fassadengerüst ist man von dem melancholischen Wesen am Stiftherrenhaus in Hameln seltsam berührt. Liegt ein Kopf dann zur Sanierung wie abgeschlagen auf dem Gerüst, scheint die Traurigkeit der Figur auch den Betrachter zu ergreifen.

Wächter spielen eine wichtige Rolle. Der Hauptbahnhof in Helsinki (1904 entstanden im Stilmix von Neoklassizismus und Jugendstil) hat an der Eingangsfassade gleich 4 davon. Die Fackelträger von Emil Wikström (1864–1942) sind die bekanntesten Skulpturen des finnischen Bildhauers. Sehr sportlich diszipliniert die Abwehrreihe der Fußballer von der Stange auf der Den Haager Grundschule Het Galjoen. Und dann doch noch ein schlauer Kopf vor moderner Architektur. Obwohl sich Estland westlich orientiert, zeigt man die Vergangenheit und stellt die Ikone des Kommunismus vor die Cortenstahlfassade des Filmmuseums in Tallin (2017).

Hochzeitshaus – Die Schreibweise irritiert etwas und sagt nichts über die richtige Betonung und eigentliche historische Nutzung. Denn das über 400 Jahre alte Weserrenaissancegebäude in Hameln war immer ein Haus für hohe Zeiten, also besondere Festlichkeiten, ein Hoch-Zeithaus und kein Haus für Hochzeiten. Heute würde man sagen Eventzentrum.

Der dortige Standort des Standesamtes hat damit also nichts zu tun. Unterhalb der Ziergiebel der Zwerchhäuser blicken aufgereihte Sandsteinköpfe auf die Stadt. Selbst die Hutmode wirkt erstaunlich modern. Sogar den Hut von Johannes Oerding findet man wieder. Die aufwendige Dachsanierung mit Eindeckung in historisch authentischen, originalgetreuen, spaltrauen Solling Natursteinplatten gib mir die Gelegenheit, den versteinerten Mimiken sehr nahe zu kommen.

Er ist wahrscheinlich auf seiner Lieblingsstrecke. Der Jogger auf dem Weg durch die Arkadenhalle am Rande des Alten Südlichen Friedhofs in München. Ich kann ihn verstehen. Viele historische Friedhöfe stehen nicht nur unter Denkmalschutz, sondern wegen des alten Baumbestandes und der Artenvielfalt auch unter Naturschutz. So auch hier südlich der Altstadt am grünen Band der Isar, das sich durch ganz München zieht.

Vor der Friedhofsmauer spielt das Leben Tischtennis. Der Friedhof wurde 1563 als Pestfriedhof angelegt und war von 1788 bis 1868 einziger Münchener Zentralfriedhof und Grabstätte vieler prominenter Münchener wie Leo von Klenze (1784-1864), neben Schinkel bedeutendster Architekt des Klassizismus oder Carl Spitzweg (1808-1885) und Justus von Liebig (1803-1873)

Und nun in eigener Sache. Genau wie einzelne Baudenkmale müssen denkmalgeschützte Friedhöfe als Flächendenkmale gesetzlich geregelt vor Verfall geschützt und erhalten werden. Das gilt auch und vor allem für das unbequeme, belastete Erbe (contested heritage) der Militärgeschichte wie den Garnisonsfriedhof in Hameln. Es geht nicht um die Glorifizierung der hier bestatteten hochrangigen Offiziere aus der Garnison Hameln und dem überregionalen norddeutschen Raum, sondern um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe von Gewalt und Tod. Die Grabdenkmale sind Zeitzeugen für nachfolgende Generationen. Sie werden kommentiert und historisch eingeordnet, bleiben aber in Ihrer zeitprägenden Originalsubstanz und authentischen Aussage unverändert.

Der Garnisonsfriedhof steht nicht im Fokus der meisten Hamelner. Viele haben seine Existenz vergessen und sind überrascht, wenn Sie vielleicht mal zufällig durch das schmiedeeiserne Tor zwischen der dichten Wohnbebauung treten. Fast schon symbolisch rauscht der Autoverkehr auf der stark befahrenen Bundesstraße vor dem Friedhof vorbei. Es bleibt keine Zeit für eine Reflektion der kriegerischen Geschichte.

Der Friedhof wurde bereits 1676 angelegt. 1685 erfolgte die erste nachweisbare Bestattung. Die erhaltenen Grabstätten stammen vorwiegend aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Als restauratorische Aufgabe stellt sich jetzt aktuell für die nächsten 3 Jahre die Konservierung und Festigung der noch vorhandenen Sandsteinsubstanz ohne dabei die Spuren der Zeit zu verwischen.

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Seit 2005 wohnen wir in der hannoverschen Nordstadt. An viele Bilder im Quartier gewöhnt man sich oder nimmt sie im Alltag nicht mehr wahr. An die Ausstrahlung des Alten Jüdischen Friedhofs, der sich eigentümlich über die Oberstraße erhebt, werde ich mich nie gewöhnen. Anfangs dachte ich, der Grabhügel wäre durch die bei jüdischen Friedhöfen so häufige Mehrfachbelegung aufgrund von Platzmangel entstanden. Aber der Grund ist tatsächlich topographisch, eine Binnendüne der Leineniederung. Angelegt wurde der Friedhof 1550 und bis 1864 genutzt. Der älteste jüdische Friedhof Norddeutschlands.

Aufwendige Grufthäuser auf dem Engesohder Friedhof zeigen ihn noch heute, den Wohlstand der Gesellschaftseliten und des Industrieadels während der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Wie der Alte Südliche Friedhof in München ein Prominentenfriedhof der Gründerzeit. Der wirtschaftliche Aufschwung, begünstigt durch die französischen Reparationszahlungen des gewonnenen DeutschFranzösischen Krieges, lässt aufwendige Gräber entstehen. Auch im Tod wollte man Status zeigen und bewahren. Ein Ritus wie in altägyptischer Zeit. Auch der Jugendstil holte sich zur Grabfigur Assoziationen aus dem Reich der Pharaonen. Den Friedhof betritt man über einen Arkadengang.