StadtReisen

Bahnhöfe sind die Wohnzimmer der Reisenden. Nicht immer fühlt man sich entsprechend aufgehoben. Die Wahl zum Bahnhof des Jahres durch die Allianz pro Schiene wird seit 2004 jährlich durchgeführt.

Zwei von 14 Kriterien der Jury beziehen sich direkt oder indirekt auf die architektonische Gestaltungsqualität, alle übrigen sind funktional aus Kundensicht. In der Jury gibt es unter den Interessenvertretern der Verbände keinen Architekten. Deshalb heisst das Ergebnis aus der Juryentscheidung dann auch nicht schönster Bahnhof, sondern bester Bahnhof aus Kundensicht. Sieger 2020 wurde Altötting. Zum schönsten Bahnhof Deutschlands wurde 2020 durch direkte Kundenbefragung eines Reiseportals Leipzig gewählt. Ich habe persönlich nichts gegen Leipzig oder Altötting. Mein persönlicher Favorit bleibt aber Görlitz (Eröffnung 1847). Das ist natürlich rein subjektiv und nicht an jeder Stelle kundenfreundlich, konsumorientiert oder barrierefrei begründet. Aber ich habe mich dort in der Eingangshalle wie im Wohnzimmer gefühlt.

Reisen ist unterschiedliche Raumerfahrung. Diese gilt es nach Hause mitzubringen. Denn der eigentliche Sinn des Reisens und das Wertvolle ist der distanzierte Blick auf das eigene Leben zuhause.

Gerade die Andersartigkeit der Korrespondenz von Leib und architektonischem Raum (Anmerkung: in unterschiedlichen Kulturen) macht unter anderem einen großen Teil unserer Reiseerlebnisse aus.

Wolfgang Meisenheimer
Das Denken des Leibes und der architektonische Raum – 2004

Bahnhof des Jahres: allianz-pro-schiene.de

Ein leidenschaftlich Comic lesendes Kind war der Grund für eine Städtereise. Spätestens in der Pubertät ändert sich diese hormonell bedingte Fokussierung und elterliche Selbstaufgabe in der Reiseplanung. Unser Sohn liebte Asterix. Was lag da näher, als für ein paar Tage nach Rom zu reisen. Die Recherche zu einer günstigen Unterkunft brachte dann die Ernüchterung und schnelle Entscheidung, stattdessen das Römisch-Germanische Museum in Köln zu besuchen. Der merkt den Unterschied doch gar nicht, haben wir uns beruhigt. Und tatsächlich. Die erstaunliche Erkenntnis, dass im Comic nur wahre Geschichten erzählt werden, kommt schon in der Eingangshalle des Museums. In einem Heft wird sehr lustig über die Abfindung der einfachen Legionäre berichtet, die nach Ausübung des aktiven militärischen Dienstes von Caesar ein Entlassungsgeld bekommen. Im hohen Luftraum des Foyers in Köln steht dazu das riesige Grabmal eines einfachen Soldaten, das sich dieser über die Abfindung finanzierte. Etwa im Jahr 89 nach Christus wird Köln zur Hauptstadt der Provinz Niedergermanien. An der rheinseitigen Stadtmauer wird der Palast des Statthalters von Niedergermanien gebaut, das Praetorium. Also für einen der Vertreter römischer Staatsgewalt, die im Comic immer wilde Orgien feiern. Kommt Caesar dann zum Kontrollbesuch, werden sie abwechselnd grün und gelb im Gesicht. Während der Kölner Rathaus Neubebauung ab 1953 wurden die Reste des Amtssitzes bei Ausschachtungsarbeiten entdeckt und unter einer massiven Betondecke als Kellergeschoss in den Neubau integriert. Hier verläuft auch ein Kanal der innovativen römischen Abwassertechnik.

Wir entschieden uns aufgrund der Nähe, Köln und Essen zu kombinieren, um das Weltkulturerbe Zeche Zollverein zu erkunden. Die Architekteneltern emanzipierten sich unauffällig vom Kind. Wer das Ruhrgebiet neu entdecken möchte, hier die Empfehlung. Das Ruhr Museum auf dem Gelände ist dafür so etwas wie die Basisstation vor der Mount Everest Besteigung. Der Umbau der alten Kohlenwäsche durch Rem Koolhaas wurde 2010 eröffnet. Eine Ausstellung mit sehr breitem Spektrum zum Pott und unglaublich vielen Informationen für die Metropolregion Ruhr.

Das Museum beantwortet im Grunde nur eine Frage, aber die sehr eindrucksvoll: Was war das Ruhrgebiet und was ist es heute? Trinkhallen, Industrielandschaften und Fußball. Nichts fehlt. Zum Beispiel im unterirdischen Kohlenbunker Sonderausstellungen mit großformatiger Fotogeschichte zum Leben im Ruhrgebiet. In der Dauerausstellung hängt die Originaljacke von Horst Schimanski. Mehr ist zur Museumsqualität eigentlich nicht sagen. Das eindrucksvollste bauliche Element zur Integration der Museumsnutzung in die technischen Anlagen der ehemaligen Kohlenwäsche ist die dunkelorange beleuchtete Treppe. Sie symbolisiert die rotglühende Kohleschlacke bei der Stahlerzeugung und fließt durch alle Etagen. Vom Dach des Museums hat man einen spektakulären Ausblick über die Zeche. Mit 100 ha ist das Gelände größer als die Essener Stadtmitte. Die Anlagen waren von 1847 bis 1986 in Betrieb und sind seit 2001 Unesco Welterbe. Einer der wichtigsten Akteure zur Erhaltung und Nachnutzung des Geländes ist der Künstler Thomas Rother. Er besetzte nach eigener Erzählung zusammen mit seiner Frau nach der Stilllegung der Zeche im Handstreich die alte Maschinenhalle und ließ sich nicht mehr vertreiben. Der damalige Besitzer wehrte sich erst, inszenierte den Konflikt aber später als Kulturförderung. Wir lernten das Ehepaar zufällig kennen, als wir das Gelände in der Abenddämmerung schon verlassen wollten. Zu neugierig schauten wir durch den Zaun auf das Außengelände und wurden dann einfach ins Innere entführt. Die Maschinenhalle war zu unserem Besuch Wohnung und Atelier zugleich. Während im Hintergrund unseres Gesprächs die Waschmaschine rotierte, kamen die Antworten von Thomas Rother auf unsere Fragen zu seinem künstlerischen Konzept etwas ruppig: Das brauche ich euch gar nicht erst erklären, versteht ihr sowieso nicht. Irgendwie sympathisch habe ich gedacht. Kommunikation läuft. Künstler ist interessant. Frau Rother griff dann diplomatisch ein und erzählte uns einiges über die Geschichte zu ihrem Einzug und die regelmäßigen Führungen mit Kindern. Beeindruckt verließen wir das Gelände Richtung Köln. Ein Mehrfarbdruck des Förderturms hängt heute als bunte Erinnerung in unserem Treppenhaus. Er stammt aus der Werkstatt handgedruckt in der Passage unterhalb des Förderturms.

roemisch-germanisches-museum.de

UNESCO-Welterbe Zollverein

handgedruckt.de

Kunstschacht Zollverein – Thomas Rother – Zollverein

Thomas Rother – Zollverein

Den historischen Kern von Stralsund bezeichnet man wegen der Wasserlage auch gerne als Altstadtinsel. Über die Rügenbrücke schließt sich die Lücke zur benachbarten Insel. Als auffällige Skulptur schiebt sich das 2008 eröffnete Meeresmuseum Ozeaneum in die Stadtsilhouette. Mit der Assoziation aus vom Meer umspülten Steinen gewann das Büro Behnisch und Partner den Architektenwettbewerb. Genauso sympathisch und nachvollziehbar wäre aber auch die Inspiration über aufgeblähte Segel. Als das Segelboot vor dem Museum ins Bild kam, war die Assoziation doch sehr verblüffend. Entscheidend ist aber die gelungene Integration des großen Volumens in die Umgebung der historischen Hafenspeicher. Wieder einmal zeigt sich, wie wichtig das Gefühl für Plastizität ist. Und damit ist nicht 3D Modelling gemeint. Damit kann man das das Arbeiten am Körper und die Formenfindung nicht ersetzen, sondern in Ausführung und Umsetzung nur technisch vereinfachen, aber keine Baukunst erzeugen. Gekonnt erfüllt das Gebäude die strengen Anforderungen des Wettbewerbs zur Höhenentwicklung im Weltkulturerbe.

Die bildhauerische Figur ist sicher sehr egozentrisch, fügt sich aber durch ihre Bewegung sensibel in die Umgebung ein. Plastisches Arbeiten bedeutet also Umgang mit den Übergängen. Was passiert an den Kontaktflächen zu Altstadt? Genau das ist der Unterschied zu Museumsbauten von Liebeskind oder Gehry, die wie in Berlin und Bilbao als Meteoriten in die Stadtlandschaft einschlagen und bewusst stören wollen. Typisch für Städte am Wasser ist der Wechsel von Ferne und Weite mit Enge und Begrenzung. Wie der kindliche Wunsch nach Verstecken und Kissenburgen bauen, auf Schränke und Leitern klettern und über Zäune schauen. In Kopenhagen gibt es für beide Urinstinkte die passenden Situationen. Der Platz vor der Königlichen Oper in Kopenhagen unter einem fliegenden Dach ist so ein Ort der Weite mit Blick auf die ferne Stadt. Historische Straßen in Kopenhagen verengen und weiten sich je nach der begleitenden Bebauung.

Zurückgekehrt aus Venedig hat der Aperol Spritz plötzlich nicht mehr den gleichen Geschmack. Wirkung durch Menge steigern hilft da wenig. Uns fehlt einfach das Licht und der Wind von der Adria. Die Bilder bleiben auch noch Wochen später. Tagestouristen verlassen die Stadt, es wird allmählich ruhiger und überall auf den Tischen an den Uferwegen leuchten Aperolgläser in der tiefstehenden Sonne. Dazu die italienische Art aus dem Fenster auf die Straße zu kommunizieren und nach Sonnenuntergang die Plätze zum eigenen Wohnzimmer zu machen. Man schafft es einfach nicht, diese kitschig schönen Szenen loszuwerden. Eine Kollegin hat mir einen Italiener in Hameln empfohlen, bei dem Sonneneinfall und Espresso angeblich so gut sind, dass auch der Aperol schmeckt… Dem persönlichen Erlebnis hilft die Bilderflut aus unendlich vielen, millionenfach fotografierten Erinnerungen natürlich wenig. Vor der Reise hatten auch wir aufgeladene Erwartungen.

Es ist wie immer. Ein Großteil der Berichte stimmt. San Marco ist überfüllt , chinesische Kitschläden sind überflüssig, Restaurants im Zentrum sollte man meiden und teures Modedesign wie Lederhandschuhe in Pantone Farben brauchen die wenigsten. Auf der anderen Seite ein eindrucksvoller Stadtraum mit den Palazzi im Hintergrund als Theaterkulisse. Vor der Bühne im ehemaligen Teatro Italia (1916) kauft man Lebensmittel umgeben von Wand- und Deckenfresken. Den für mich schönsten Innenraum Venedigs besitzt das Teatro la Fenice (Eröffnung 1792), das 1996 vollständig abbrannte und nach historischen Plänen und Bilddokumenten von Aldo Rossi nahezu originalgetreu wiederaufgebaut wurde. Nicht immer ist Rekonstruktion gerechtfertigt. Aber Denkmalpflege ist kollektives Erinnern. Und wenn am Ende die Rekonstruktion steht, weil nichts anderes mehr da ist, dann ist das sicher nicht das Schlimmste. Wenn eine Stadtgesellschaft zur Identifikation mit der eigenen Vergangenheit ein verlorenes Gebäude einfordert, dann sollte man darüber nachdenken. Das gilt für Venedig genauso wie für Dresden.

Neben dem Orange des Aperol bleibt für mich die Erinnerung an unsere Wege durch die Enge der Gassen. Auf und ab über schmale Brücken, durch Arkadengänge und niedrige Torbögen. Dabei immer wieder plötzliche 90 Grad Wendungen, unerwartete Ausblicke aufs Wasser und der ständige Wechsel von tiefem Schatten in grelles Sonnenlicht. Zu unserer Reisezeit zwei Wochen vor Ostern gab es noch touristenfreie Winkel. Neben San Marco sind die anderen fünf Stadtteile Venedigs wesentlich ruhiger und authentischer. In den Bars und Restaurants mehr Einheimische und Studenten und auch mehr trocknende Wäsche über den Kanälen. Durch den öffentlichen Personennahverkehr mit dem Vaporetto erreicht man relativ günstig jeden Punkt in der Stadt. Es gibt die architektonische Theorie vom schönen Detail des einzelnen Bauelements, das unendlich oft vervielfältigt werden kann ohne banal oder monoton zu wirken. Die Säulenreihung im Dogenpalast kommt diesem Ideal sehr nahe. Übrigens sind die Ausstellungsräume mit den kostbaren Gemälden trotz großer Feuchte- und Temperaturschwankungen in der Lagune natürlich belüftet. Verstehe ich als deutscher Architekt nicht. Wir klimatisieren alles, inzwischen auch die einfachen Wohnhäuser.

Die museal konservierte Geschichte der Stadt fand ich oft sehr anstrengend. Überall Monumentalgemälde von Tintoretto bis Tizian mit biblischen Motiven. Zum Beispiel in endloser Länge in der Gallerie dell Accademia. Selbst über mir bricht irgendwann das überirdisch biblische Licht dramatisch durch die Wolkendecke. Die experimentelle Kunst der Moderne kommt durch die Biennale in die Stadt oder in beeindruckender Größe durch Anselm Kiefer. Im Sala dello Scrutinio im Dogenpalast stehen riesige, collagenartige Gemälde auf 800 qm Leinwand bis unter die Decke und harmonieren mit den historischen Farben. Die wandseitigen Gemälde der alten Meister wurden für die Dauer der Ausstellung verhüllt. Kiefer inszeniert auf 8 großformatigen Szenen imposant eine historisch kritische Betrachtung der einst sehr kriegerischen Seemacht Venedig. Weniger dramatisch und sehr heiter verblüfft die Künstlerin Carole A Feuerman mit ihrer täuschend echt wirkenden Skulptur in einem Innenhof. Sie heißt übrigens Überleben von Serena und die Kunst Hyperrealismus.

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Mit dem Homo Faber Event auf der Insel San Giorgio Maggiore versucht Venedig über die Verbindung mit kreativem Design traditionelle Handwerkskunst zu bewahren und zu revitalisieren. Mein Bericht über diese innovative Veranstaltung und das Glasmuseum auf der Insel unter Handwerk – StadtPunkte Neue Architektur muss man in Venedig suchen. Die Calatrava Brücke, die auf den Bahnhofsvorplatz Santa Lucia führt, gehört dazu. Funktionale Schwächen bei Regen und Kälte und die fehlende Barrierefreiheit führten zu juristischen Auseinandersetzungen mit dem Architekten. Die Linienbeleuchtung in der Untersicht des Handlaufs scheint auch so ein Schwachpunkt der Detailplanung zu sein. Trotzdem ist die Brücke schön. Auf neue Bilder vom Markusplatz wartet niemand. Blickt man aber kurz zur Seite Richtung Arkaden, spiegelt sich im Glas des Olivetti Showrooms (1958) die Architektur des Platzes. Kaum jemanden aus der Masse der Touristen interessiert sich für die Räume dahinter. Darüber mehr unter SchauFenster – StadtPunkte

Die Entscheidung auf der anderen Seite der Lagune auf der Lido Insel zu übernachten, haben wir nicht bereut. Die schnellste Vaporetto Verbindung dauert etwa 15 Minuten bis zum Markusplatz. Meine Vorstellung war irgendwie touristischer. Vergleichbar mit der Entwicklung der Bäderarchitektur der Gründerzeit an deutschen Küsten entstanden im eigentlichen Ort Lido im Norden der Insel ab dem Ende des 19. Jahrhunderts Villen und mondäne Hotels wie das Grand Hotel de Bains (1900) und das Grand Hotel Excelsior (1907).

Die Villenarchitektur ist sehr geschlossenen noch im Original erhalten und auch wir wohnten in toller Atmosphäre mit Blick in einen Palmengarten in einer über 100 Jahre alten Villa. Nach einem nächtlichen Gewitter standen wir eines Morgens auf der Dachterrasse des Hotels. In der glasklaren Luft tauchten hinter dem Markusplatz die Alpen auf. Da war er wieder, der legendäre, atemberaubende Venedig Kitsch. Die beiden Grand Hotels und die Gebäude der Filmbiennale stehen an einer Straßenachse parallel zum Lido Strand. Die spielerische Moderne des 50er Jahre Vorbaus am Palazzo Cinema und der etwas aufgeblasene Neoklassiszismus der Mussolini Zeit stehen sich gegensätzlich und wortlos gegenüber. Vor 10 Jahren wollte man hier einen modernen Filmpalast ergänzen. Der Siegerentwurf des Wettbewerbs wurde nie realisiert. Nach einem kinoreifen Korruptionsskandal mit schlauen Lokalpolitikern, Baugrundproblemen, viel Vorplanung und Präsentationen waren am Ende 35 Millionen Euro verschwunden. Das erzählt mir der Hotelier immer noch etwas ungläubig an der Rezeption. Die jahrelang offene Baugrube ist jetzt wieder mit einer sehr schönen Platzgestaltung aus Bäumen und Sitzinseln geschlossen. Eine sehr italienische Designlösung für die 130 Bäume weichen mussten und die Lieblingsbar des Hoteliers abgerissen wurde. Ich glaube, das ist sein eigentliches Problem und nicht das verschwundene Geld. Deutsch italienische Zusammenarbeit entdeckten wir an einer Villa in der Nähe unseres Hotels. Am Tor des Hauptportals zur Abschreckung ein deutscher Schäferhund. Die italienische Wirklichkeit lag unbeweglich und entspannt auf der Terrasse zum Garten.

Hotel Villa delle Palme

Und zum zweiten Mal innerhalb eines Monats mit dem Vaporetto durch ein Weltkulturerbe. Einziger Schönheitsfehler – die Schiffe heißen in Lübeck Barkassen. Aber auch hier gibt es luftgetrocknete Wäsche am Wasser. Auf dem Kanal und von der Trave bekommt man eine ganz andere Perspektive auf die Stadt und die Hafenanlagen. Lübeck hat zwei Seiten, die historischen Schaufassaden für die Touristen und die Gängeviertel, also die Hinterräume, für die Bewohner. In vielen historischen Altstädten wurden diese rückwärtigen Bereiche im Zuge der berüchtigten Flächensanierungen abgeräumt. Mit einem kaum zu reparierenden Verlust von Wohnqualität. In Lübeck versucht man auch beim Neuaufbau von Altstadtflächen Qualitäten wiederzufinden. Das sogenannte Gründungsviertel, eines der ältesten Stadtviertel mit Ursprung im Mittelalter wurde 1942 durch Bombardierung fast völlig zerstört und in der Nachkriegszeit großmaßstäblich neu bebaut. Nach Abbruch dieser Nachkriegsbauten orientiert sich die neue Baustruktur jetzt wieder an den mittelalterlichen Grundstücksparzellen und Baufluchten. Zu unserem Besuch 2019 noch in Planung und Ideenfindung über Wettbewerbe, war ein Großteil der Gebäude zur Rückkehr 2022 bereits realisiert. Ähnlich wie in der Neuen Altstadt in Frankfurt versuchen die Architekten Themen der historischen Fassaden aufzunehmen. Sowohl konstruktiv als auch gestalterisch betrachtet manchmal glücklich, manchmal unglücklich…

Wohltuend individuell gibt sich in Lübeck neben dem üblichen Einheitsbrei der großen Modeketten die Hüxstraße. 121 kleine Läden und Restaurants reihen sich aneinander auf einem halben Kilometer verkehrsberuhigter und samstags sogar autofreier Zone. Städte erschließen sich mir eher über Häuser als über historische Personen. Mentale Gebäudevisualisierung hilft, die damit verbundenen Personen dauerhaft im Gedächtnis verankern. Das Willy Brandt Haus mit Museum und Ausstellung zum privaten und politischen Wirken ist neben Berlin Sitz der Willy Brandt Stiftung. Nach aufwendiger Sanierung wurde das Patrizierhaus in der Lübecker Altstadt 2007 eröffnet. Die Qualität der Räume und Höfe mit gelungener Integration der modernen Nutzeranforderungen bleibt im Gedächtnis und deshalb werde ich auch nicht vergessen, dass Willy Brandt in einem Vorort von Lübeck geboren wurde.

Die Einfügung des Neubaus zum Europäischen Hansemuseum (Eröffnung 2015 – Andreas Heller Architekten) in die Topografie der verdichteten Altstadt mit Integration des alten Burgklosters war eine ähnliche Herausforderung wie zum Ozeaneum im Weltkulturerbe Stralsund. Das sehr komplexe, multimediale und räumlich spannende Ausstellungskonzept zum Thema Hanse stand bereits 2019 auf unserem Programm. Auf der halb privaten, halb fachlichen Exkursion 2022 konnte ich dann die Außenräume und Fassaden nochmal wirken lassen. Ein Erlebnis ist die äußere Erschließung des 7000 Quadratmeter großen Areals am nördlichen Rand der Altstadt. Man überwindet vom tiefsten Punkt an der Untertrave bis zu den Ebenen auf der Altstadtseite mehrere Niveaus und läuft praktisch über das Museum hinweg. Erholen kann man sich davon im Museumscafe mit Blick auf die Trave oder im versteckten Cafe Fräulein Brömse hinter dem Burgkloster am Spielhof. Gefördert wurde der Neubau des Museums und die Sanierung der Bestandsgebäude wie viele Projekte in Lübeck von der Possehl Stiftung. Die Unternehmensgruppe Possehl Holding geht zurück auf den Lübecker Kaufmann Emil Possehl (1850-1919). Ziel der Stiftung, Finanzkraft und Aufbau der Unternehmensgruppe sind in unserer heutigen Kapital und Profit orientierten Unternehmenskultur so ungewöhnlich, sozial und idealistisch, dass ich dazu aus der Unternehmenspräsentation zitieren muss: Über Gewinnausschüttungen an die Management-Holding gelangen die weltweit unternehmerisch verdienten Erträge letztlich an die Possehl-Stiftung als alleiniger Gesellschafterin und kommen so ausschließlich gemeinnützigen Zwecken in Lübeck zu Gute. Laut Stiftungsurkunde ist ein Stiftungszweck Das schöne Bild der Stadt. Ich würde sagen, Ziel erreicht. Bleibt am Ende nur noch mein sprachloser Blick in die Gewölbe der St. Marien-Kirche.

gruendungsviertel.de

die-huexstrasse.de

willy-brandt.de

hansemuseum.eu

cafe-fraeuleinbroemse.de

Possehl-Stiftung – Lübeck