Raum

Ganz einfach – Raum. Und doch so komplex, das zentrale Thema der Architektur. Was ist das eigentlich, wie erzeugt man ihn. Die Antwort liegt für viele Architekten in der reinen Geometrie. Was für ein fataler Irrtum. Jeder fühlt Raum anders. Am deutlichsten spürt man ihn in seiner Abwesenheit. Dazu muss man nicht lange suchen. Auch darum geht es hier.

Kindheit ist ein leerer Raum mit dem das Leben beginnt. Anselm Kiefer

Da ich mir nicht herausnehme, Jahrhunderte architektonischer Raumerfahrung nachzuerzählen, habe ich mich entschieden, hier den Band Architektur – Raum – Theorie (Hg. Denk, Schröder, Schützeichel, Wasmuth Verlag 2016) als Grundlage zu nehmen. Mit eigenen Bildern und Gedanken gehe ich durch Zeit und Raum und versuche eine Antwort zu finden. Kein einfacher Weg, diese Suche nach dem Ursprung der Architektur.

Immerhin 150 Jahre Raumtheorie seit Gottfried Semper. Angekommen bin ich gerade bei Daniel Libeskind auf Seite 575 von insgesamt 751 Seiten! Deshalb folgt die Essenz und Zusammenfassung erst nach Abschluss der Lektüre hier an dieser Stelle. Nur eines vorweg:

raumerlebnis ist kein privileg begabter menschen, sondern biologische funktion

(László Moholy-Nagy 1929)

Bedeutet, jeder kann es. Das gilt auch und besonders für Kinder. Deshalb nochmal die Bitte an die Grundschullehrerin, mit ihren Kindern Raumwahrnehmung zu üben. Mit dem Material der Architektenkammern Architektur macht Schule geht das ganz gut und es würde mich freuen. Alle links dazu im Beitrag Lesenswert – StadtPunkte unter Geschmacksbildung und Hausaufgaben.

Durch den Blick auf die heutige Realität wird das Verständnis der verschiedenen Raumvorstellungen intuitiver. Ein hoher Anspruch, aber ich gebe mir Mühe und benutze zur Inspiration hin und wieder ein Glas Primitivo. Zum Einstieg etwas sehr Persönliches.

Geometrischer Raum – Erlebnisraum

Am Samstag, den 17. Juli 2021 habe ich ein letztes Mal in meinem früheren Kinderzimmer übernachtet. Unser Elternhaus wird verkauft und meine Mutter zieht in eine Wohnung. Schon seit langer Zeit war der Raum ihr Lese- und Fernsehzimmer. Die Möbel wechselten. Trotzdem tauchten meine Erinnerungen wieder auf. Es ist nicht nur eine rein geometrische Volumenfrage mit Ausdehnung von Dimension und Proportion, die Raumgefühl erzeugen. Das war in der Architekturtheorie sehr lange eine weit verbreitete Meinung. So reduzierte Gottfried Semper das formale Schöne des Raumes in seinen drei Dimensionen auf die Gestaltungselemente Symmetrie, Proportion und Richtung als Ausdruck von Bewegung. Für mein Kinderzimmer gilt viel mehr. Der Architekt Wolfgang Meisenheimer widerspricht der rein geometrischen Theorie.

Mein Zimmer, das ist ein architektonischer Ort, nicht ein geometrischer Ort. Ich hänge an diesem Raum, mein Selbst ist mit seiner Form und seinen Anordnungen verknüpft. Wenn ich ihn wahrnehme, ist eine Überlagerung von allerfeinsten Reizen im Spiel, die ich mit ebenso subtilen Erinnerungen und Projektionen verbinden kann. Der Ablauf der Wahrnehmung architektonischer Orte ganz allgemein ist mit Vorstellungen von Vergangenem und Zukünftigem aufgeladen, er führt uns nicht nur gebaute Dinge, sondern theaterhafte Szenerien vor Augen, Phänomene mit Raum-Zeit-Struktur.


Wolfgang Meisenheimer – Das Denken des Leibes und der architektonische Raum (2004)

Oder um es mit den Worten von Richard Neutra zu sagen: Wenn Architektur eine Angelegenheit vieler Sinne ist, so ist auch die ihr bestimmte Bühne, der Raum an sich, in Wirklichkeit ein Produkt vieler Sinne […] Wir sind dieser (organischen) Basis näher, wenn wir Zeit und Raum als untrennbar, als vierdimensionales Kontinuum betrachten.

Die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeiten gehören zum Raum. Deshalb fiel es meiner Mutter auch sehr schwer, ein Haus zu verlassen, das den Raum unserer eigenen (Familien)Vergangenheit bildet. Wolfgang Meisenheimer nennt ihn Erlebnisraum. Während ich diese Zeilen im Dezember 2023 schreibe und dazu Rilke zitiere, ist meine Mutter kurz vor Weihnachten dem Tod sehr nahe. Die Rilke Gedanken sind für sie.

Ich habe das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das als mein Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut – die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern.


Rainer Maria Rilke – Obstgärten (1926)

Es gab für unsere Mutter noch einen anderen wichtigen Raum, das früh verlorene eigene Elternhaus. Teil ihrer Migrationsgeschichte in einer Zeit, die dieses Wort noch nicht kannte. Vertrieben wurde der Status nach dem Zweiten Weltkrieg genannt. Auch dieses Haus mit den Räumen einer glücklichen Kindheit hat sie später nie losgelassen. Bis zum Ende hing das Aquarell des roten Ziegelbaus mit den grünen Fensterläden und der Glasveranda an ihrer Wand. Auf den Treppen, von denen Rilke spricht, hat sie mit ihrem Hund gesessen. Als Kleinkind schaut sie behütet und im Fensterrahmen von den Großeltern gehalten neugierig in die Ferne. Bald stand der Krieg vor der Haustür und das Haus wurde verlassen. Ihre Sehnsucht konnten wir immer spüren. Heute würde sich meine Mutter freuen, wenn sie wüsste, das ich mit ihrer Hilfe das Thema ErinnerungsRaum erkläre.

Mit den Toten ist es eine merkwürdige Sache: Obwohl verschwunden, beanspruchen sie Zeit und Raum.

Ulrich Rüdenauer in SWR Kultur Literatur

Heimat ist ein Raum aus Zeit, so auch der Titel über eine deutsche Familiengeschichte vom ersten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung.

https://www.bpb.de/mediathek/video/319173/heimat-ist-ein-raum-aus-zeit

Natürlich hat die rein geometrische Raumdefinition, in der man den Menschen mit seinen Körpermaßen wie im Modulor von Le Corbusier auf ein geometrisches Koordinatensystem bezieht, ihre Berechtigung mit Blick auf eine notwendige Ergonomie. Das Problem ist dabei eher die architektonische Absolutheit, die den gelebten Raum des Menschen ausblendet. Der Mensch wird zum Gegenstand, zur Maßeinheit. Franz Xaver Baier, der seit 1998 an der Architekturfakultät der Hochschule München lehrt, versucht in seinem Buch Raum (1996) die tatsächliche Parallelität von gelebtem und ungelebtem Raum darzustellen. Aufgelöst werden soll der Irrweg der Architektur, man könne Raum ausschließlich mit Baustoffen unter Festlegung von Höhe, Breite und Länge erzeugen. Sucht man einen Ausdruck für die gleichzeitige, gemeinsame Existenz von gelebtem (sozialem) und ungelebtem (geometrischen) Raum, dann sind es sicher die anthropologischen (menschlichen) Orte, die Marc Augé in seiner Studie Orte und Nicht-Orte (1992) beschreibt und denen er Identität, Tradition und soziales Umfeld zuschreibt. Augé spricht über Nicht-Orte der globalisierten modernen Welt, die diese menschlichen Beziehungen nicht aufweisen.

Bei Berichten über neue Architektur fällt auf, daß sie kaum Raumbeschreibungen wiedergeben. Stattdessen wird viel über Baumassen, Formprobleme, Bausummen und Baudetails geschrieben. Liegt das daran, daß sich niemand traut, in den Raum voll einzusteigen, weil die Erfahrung ohnehin in den Bereich der persönlichen Subjektivität abgetan wird?

Vogelgezwitscher, Kirschen und Beton können als Bauelemente einbezogen werden. Da alles räumliche Wirkung hat, kann Architektur auch aus Licht, Luft und Leere, Sprache, Gesten, Geräuschen usw. Räume bauen.

Um die Wirklichkeit des Raumes zu erfassen, ist es wichtig, daß wir auch Umgebungen und verborgene Wirkungen hinzusehen können. […] Hierzu gehört eine virtuose Wahrnehmung durch die auch Natur, Bäume, Situationen, Räume als Texte gelesen werden können und wodurch auch die immaterielle Wirklichkeit der Stimmungen , Atmosphären, Nähen, Weiten, Dimensionen und Niveaus wahrgenommen werden kann.


Franz Xaver Baier – Raum (1996)

So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum , der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.

Marc Augé – Orte und Nicht-Orte (1992)

Warum sich die eindimensionale, mathematisch rationale Raumvorstellung in der Architektur festgesetzt hat, versucht der Architekt Peter Eisenmann zu erklären.

Die Raumanschauung wird zumeist im Sinne eines mathematisierten Sehraums verstanden. Wenn ich den Begriff mathematisierter Sehraum verwende, so meine ich damit jene besondere Weise des Sehens, durch welches dieses mit dem Denken und das Auge mit dem Verstand verbunden ist. In der Architektur verweist es auf die besondere Weise der Wahrnehmung, welche mit der monokularen, perspektivischen Raumkonstruktion verbunden ist. Der monokulare Blick des Subjekts in der Architektur ermöglicht die Darstellung aller Projektionen des Raumes auf einer einzigen planimetrischen Ebene. Es ist deshalb auch nicht überraschend, daß die Perspektive durch ihre Fähigkeit, die Wahrnehmung räumlicher Tiefe auf einer zweidimensionalen Fläche zu definieren und darzustellen, in der Architektur ein bereitwilliges Anwendungsfeld fand. Und es wundert ebensowenig, daß sich die Architektur sehr schnell dieser einäugigen Sehweise anpaßte – mit ihrem eigenen Körper. Der Raum wurde , welcher Stil auch immer vorherrschte , als verstehbares Konstrukt geschaffen, welches um räumliche Elemente wie Achsen, Plätze, Symmetrien, etc. angeordnet wurde.


Peter Eisenmann – Visions Unfolding (1992)

Deshalb mit Peter Eisenmann im Rücken die rhetorische Frage an alle Professoren der Darstellenden Geometrie und der Digitalen Visualisierung: Wie groß ist der Beitrag von aufwendigen geometrischen Darstellungen (seit Brunelleschi und Dürer), räumlichen Konstruktionen und komplexen Software Anwendungen zum eigentlichen Raumverständnis eines Erstsemesters der Architektur wirklich? Helfen diese Instrumente, Raumideen zu entwickeln und menschliche Lebensräume zu erzeugen? Oder sind sie nur Planerprothesen zur scheinbaren Fortbewegung in der Raumentwicklung? Natürlich war die didaktische Begründung immer, das Auge und die Vorstellungskraft mit diesen Werkzeugen geometrisch zu trainieren, um dem räumlichen Entwerfer beim Skizzieren später die Hand zu führen. Digitale Visualisierungen sollen dann diese Raumidee überprüfen. Ich habe da meine Zweifel. Und das liegt nicht nur an meiner Verzweiflung an der darstellenden Geometrie im Studium oder den digitalen, wirklichkeitsverzerrenden Hochglanzvisualisierungen der Projektentwickler. Interessant ist auch, dass zur Visualisierung von Investorenwettbewerben und zur Darstellung von Semesterarbeiten im Studium häufig Massenmodelle im Maßstab 1:500 oder kleiner gefordert werden. Raum lässt sich damit kaum bearbeiten, sondern lediglich in einem sehr begrenzten Rahmen die Plastizität der Baukörper. Dabei sieht schon der Kunsthistoriker August Schmarsow Architektur als Raumgestalterin und nicht als Kunst körperlicher Massen. (August Schmarsow – Ueber den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde 1896). Die zugegeben sehr schönen Architekturplastiken des Bildhauers Erwin Heerich auf der Museumsinsel Hombroich sind deshalb auch als eher Skulpturen zu sehen und nicht als räumliche Architektur.

Und weil Professoren in einer gewissen Hybris den Gedanken kleiner Namen wie dem meinen oft nicht zugänglich sind, hier nochmal ein anderer großer Akteur mit ähnlicher Interpretation.

Technologische Ordnung und Planung, Systemorganisation und Simulationsbeispiele – all dies sind Gambits und keineswegs unfehlbare Tricks, die als besondere Elemente in der zeitlichen Entfaltung der Realität von Belang sind. (…) Tatsächlich muss unsere Befragung weiter gehen.


Daniel Liebeskind – Symbol und Interpretation (1980)

Erlebnisraum und geometrischer Raum ergänzen sich also zum architektonischen Raum. Keiner ohne den anderen. Immer wieder neu und anders.

2015 hatten wir unser Raumerlebnis am und auf dem Erfurter Domberg. Ein ganz besonderer Ort, sehr erhaben mit Blick auf die Altstadt. Die breit gelagerte Freitreppe führt hinauf zwischen Dom und Severikirche. Das kleine Mädchen hat sich hier einen eigenen, neuen Raum geschaffen. Es war die Zeit der großen Pegidademonstrationen. Am Vortag auch hier in Erfurt am Domplatz. Als Reaktion darauf am nächsten Tag das große Kreideherz auf dem Treppenlauf. Genau das ist mit dem Zusammenspiel von Erlebnisraum und baulicher Geometrie gemeint. Und dann passierte in diesem merkwürdigen Erlebniskarussel in Erfurt noch etwas. Plötzlich der Duft von Baumstrietzeln, den gedrehten Teigrollen. Direkt in einer Nische am Treppenaufgang zum Dom gibt es einen Baumstrietzelverkauf. Es mischte sich also das unangenehme Pegidaereignis am Fuß der Treppe, das Kreideherz auf der Treppe und der Baumstrietzelduft nebenan zum Erfurter Domtreppenraumerlebnis.

Auch der Kunstort Rosebusch Verlassenschaften in den Turbinenhallen der ehemaligen Elektrizitätswerke Hannover-Ahlem zeigt sehr bewegend, dass Raum nicht allein durch geometrische Prinzipien entsteht sondern szenisch ist. Seit 1997 schuf hier das Künstlerehepaar Almut und Hans Breuste ein Raumgefüge, das sich aus Gefühlen, Erinnerungen und Erfahrungen zum Thema Verfolgung und Vertreibung zusammensetzt. Die eigentliche Hülle, der funktional nüchterne Hallenraum, erfährt durch die seriell aufgestellten und inszenierten Objekte, die zu einem großen Teil aus ehemaligen Industriestandorten in Hannover stammen, eine seltsame Aufladung. Durch Inhalt und Bedeutung wird der Raum zum Ort, zum Genius Loci. Erklären kann man das nicht, nur besuchen und erleben.

Nach all diesen sehr komplexen, akademischen Gedanken ein einfaches, verständliches Bild von Martin Heidegger zu beiden räumlichen Ebenen. Er vergleicht das Einräumen eines Zimmers mit persönlichen Gedanken, Erinnerungen und Erlebnissen mit dem Einrichten von Möbeln (Martin Heidegger Sein und Zeit 1927).

rosebuschverlassenschaften

Baumstriezel-am-dom.de

Zitate aus der Antike

Die Begeisterung des Klassizismus für die Raum- und Formensprache der Antike. Ihren Einfluss auf führende Architekten wie Klenze, Schinkel und Laves findet man etwas überrascht versteckt hinter einigen Bäumen im Landschaftspark um das Schloss Derneburg bei Hildesheim. Hier stehen mitten in der niedersächsischen Provinz ein dorischer Tempel (1827) und eine ägyptische Pyramide (1839). Entworfen und erbaut vom hannoverschen Oberhofbaudirektor Georg Ludwig Friedrich Laves für den Grafen zu Münster. Laves war zu dieser Zeit einer der führenden Architekten im Königreich Hannover. Der ahnungslose Spaziergänger glaubt der Erscheinung zwischen den Bäumen kaum.

Aus der Ablehnung und Reaktion auf diese historisierende Architektur entwickelten sich allmählich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die neuen Strömungen des Jugendstil, der Reformarchitektur und der Klassischen Moderne. Es ist der uralte architektonische Konflikt und die Auseinandersetzung von Form und Funktion, die wieder aufbricht. In der Morgendämmerung des Neuen Bauens kritisierte Paul Frankl 1908 die Stilkopisten des Historismus, die Fassaden aus den Baukästen der Antike zusammensetzten. Der Zweck der Architektur mit den orientierten Bewegungen der Menschen, die im Gebäude spezifische Handlungen ausführten, bestimme die Raumform. Da ist er schon sehr früh, der Funktionalismus der Klassischen Moderne.

Der Beginn | Derneburg

Lichtraum – Farbe – Proportion – Dimension

Auch Richard Lucae, Zeitgenosse Sempers, bleibt in der Raumdefinition sehr formal und geometrisch. Nach seiner Theorie sind es Raumkräfte, wie durch Öffnungen einfallendes Licht, Farboberflächen, Formen und der Maßstab der Bauelemente, die den Raum bestimmen. Dazu liefert Lucae einen Exkurs über die Hell-Dunkelverteilung durch unterschiedliche Anordnung der Fenster.

Die Galerien und Treppenaufgänge um den Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1906-1909 als späthistoristischer Erweiterungsbau des älteren Hauptgebäudes errichtet, zeigen noch im frühen 20. Jahrhundert Elemente und Nachwirken dieser Raumwahrnehmung. Alles da: Licht, Öffnung, Farbe, Form, Proportion der Elemente und Hell Dunkel Kontraste. Im hinteren Bereich, vom Foyer nur durch ein Gitterornament einsehbar, befindet sich die DenkStätte der Weißen Rose. Es wird an den Mut erinnert, der hier die regimekritischen Flugblätter von der Galerie segeln ließ.

Der Architekt und Historiker Christian Norberg-Schulz schreibt zur Lichtgestaltung in der klassischen Architektur der Antike, die sich hier im Historismus der Münchener Universität wiederholt:

Das Licht wird schließlich so verwendet, daß es die plastische Erscheinung der Teile und des Ganzen durch ein Spiel aus Licht und Schatten betont.


Christian Norberg Schulz – Genius Loci (1979)

Noch komplexer zeigt sich gebautes Licht in den großen christlichen Kirchen und Kathedralen. Die Übertragung des christlichen Glaubens auf den Raum als eine der großen europäischen Raumideen, die Theologie und Architektur zusammenführte. Der Betrachter ist ergriffen von der Energie des Lichts, das über die Obergaden in die Gewölbe fließt. Der Blick geht in die Unendlichkeit der Decke.

Entmaterialisierung galt als eine Funktion des Lichts, als Manifestation des Göttlichen. Man könnte deshalb sagen: der mittelalterliche Mensch baute Licht, das am wenigsten faßbare der Naturphänomene. Seitdem ist Licht ein bevorzugtes Mittel der architektonischen Charakterisierung. […] Im Innenraum der Kathedrale wird das atmosphärische Licht in eine Manifestation Gottes übersetzt, und der systematisch aufgegliederte Bau ist eine Visualisierung des geordneten Kosmos, den die scholastische Philosophie beschreibt.


Christian Norberg Schulz – Genius Loci (1979)

Während die Gotik den Lichtraum darstellte, versuchte das neue Bauen der Klassischen Moderne (Bauhaus, Internationaler Stil) viele Jahrhunderte später die geschlossenen Räume zu öffnen und durch fließende Grundrisse und Bewegung im Raum die Zeit architektonisch auszudrücken.

Platzraum

Camillo Sitte kommt der Verdienst zu, mit seinem Werk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889) eine Verbindung geschaffen zu haben zwischen dem Raumgefüge in Gebäuden und den Außenräumen der Stadt. Plätze und Platzfassaden werden in ihrer Abfolge, Proportion, Dimension und Wirkung verglichen mit Innenräumen. Dazu untersucht, vergleicht und systematisiert Sitte historische Stadtgrundrisse, setzt Gebäude und Außenraum in Beziehung und unternimmt gleichzeitig eine Kritik an den modernen, aufkommenden Tendenzen des Städtebaus seiner Zeit.

Er wird auch heute noch von Stadtplanern, Architekten und Bauhistorikern gerne gelesen und zitiert. Trotzdem kommt das Wohnzimmergefühl in den Städten unserer Zeit nicht an – Wunsch und Wirklichkeit. Dabei kann es wie hier in Hannover so schön sein, sich auf der Straße wie zuhause zu fühlen. An beiden Orten, Lutherkirchhof und Engelbosteler Damm, wurde dem Autoverkehr die Wohnzimmerfläche durch Verkehrsberuhigung entrissen. Wenn man den Menschen in der Straße Raum zurück gibt, wie an der Kreuzung in Kopenhagen, dann richten sie sich dort auch ein. Der Design orientierte Mensch blickt aus dem HAY Flagshipstore in Kopenhagen auf seine städtischen Artgenossen – menschlicher Maßstab. Manchmal sogar mit Musikbegleitung. Wir bewohnen die Straßen und Plätze nur vorübergehend, aber wir bewohnen sie.

Welche Funktionen kommen für den Platzraum in Frage? Kommerzielle Aktivitäten sicherlich, wie Markt, aber vor allem solche kultureller Art. Die Einrichtung von öffentlichen Verwaltungsbüros, Gemeindesälen, Jugendhäuser, Bibliotheken, Theater- und Konzertsälen, Cafes, Bars etc. Möglichst solche Funktionen, die eine Rund-um-die Uhr-Aktivität erzeugen, wenn es sich um zentrale Plätze handelt.

Rob Krier – Stadtraum in Theorie und Praxis (1975)

Über die Kommerzialisierung von städtischen Räumen wurde bereits viel geschrieben. Gastronomen haben die Angewohnheit, diese im Sinne von privatwirtschaftlichen Interessen zu besetzen. Besonders in beliebten touristischen Bereichen. In meinem Arbeitszimmer, der Hamelner Altstadt, hat sich das durch die Pandemie besonders ausgeprägt und nicht zurückentwickelt. In Quedlinburg gibt es Café- und Apothekensitzplätze. Eher unwahrscheinlich, dass der Gast im Fenster der Apotheke angesprochen wird auf seine Medikamentenwünsche. Die zweite Dominante der städtischen Räume war lange Zeit der Einzelhandel. Das innerstädtische Wohnen wurde verdrängt durch Kundenparkplätze und reine Geschäftshäuser. Die Altstadtbewohnerin, die in Quedlinburg ihren Einkauf vom Wochenmarkt nach Hause bringt, hat mir mal wieder bewusst gemacht, wie sehr ich diese wohntypischen Szenen in der Hamelner Altstadt vermisse. Mehr Fachwerkgedanken unter Fachwerk und Beton

Mensch – Straße – Weg

Straße und Weg. Bewegungsraum für Auto und Mensch. Zwei wichtige Erlebnisräume, die unseren Alltag dominieren. Der räumliche Vergleich stammt von Otto Friedrich Bollnow.

Die Autostraße ist Straße im betonten Sinn. Sie ist Mittel der Fortbewegung. Mittel einen anderen Ort zu erreichen. Sie ist darum kein Ort zum Verweilen.[…] Ein Fußgänger, der bequem hier wandern wollte, ist hier fehl am Platz; er behindert den Verkehr und kann froh sein, wenn er schließlich unbeschädigt davonkommt. Schon der feste Straßenbelag trennt dies Stück Boden heraus aus der natürlichen Umwelt. Für den Straßenbenutzer, vor allem für den modernen Autofahrer, verändert sich der Raum. Die Welt wird eindimensional an zurückgelegten und zurückzulegenden Entfernungen zu messen. Der Fahrer bewegt sich nicht in der Landschaft, sondern eben auf der Straße und bleibt von der Landschaft durch eine scharfe Grenze getrennt. Die Landschaft wird für ihn zum Panorama, das an ihm vorüberzieht. Sein eigentliches, Realität vermittelndes Raumgefühl ist das der Weite und der die Weite erschließenden Geschwindigkeit. Völlig anders ist der Wanderpfad. Er ist nicht hart in die Landschaft eingeschnitten wie die im rationalen Denken angelegte Straße, sondern er schmiegt sich der natürlichen Landschaft an. Er windet sich in immer neuen Biegungen, wo die Autostraße nach Gradlinigkeit strebt, und führt rücksichtsvoll um den Baum herum, den der Straßenbauer nur als lästiges Hindernis empfunden und darum beseitigt hätte. Es ist eben ein ganz andere Weise, sich auf einem solchen Pfad zu bewegen, und darum auch ein ganz anderes Raumgefühl. Der Pfad zielt nicht auf einen Endpunkt hin, sondern er ruht in sich selber. Er lockt im Verweilen. Man ist hier wirklich in der Landschaft, von ihr aufgenommen und mit ihr verschmolzen, ist selber ein Teil von ihr. Und man muß stehen bleiben, wenn eine Aussicht oder ein Anblick einen erfreut.


Otto Friedrich Bollnow – Der erlebte Raum (1960)

Wanderwege zwischen Felsformationen im Elbsandsteingebirge, der unbeschwerte Schwung eines Feldweges am Dorfrand im Ostharz, die Dorfstraße auf der Feldberger Seenplatte, die fast italienisch wirkt und dem Auto keine Chance gibt oder Bad Zwesten. Ein als Kurort getarntes Fachwerkdorf in Nordhessen zwischen Marburg und Kassel. Alles wie üblich. Der historische Ortskern umgeben von Neubauten und Kleingewerbebetrieben. Was diese Strukturen für den dörflichen Straßenraum bedeuten, zeigt der Blick in Richtung Dorfkern mit Kirche und entgegengesetzt zum Ortsausgang in Richtung Bundesstraße. Unschwer zu erkennen, wo die städtebauliche Banalität beginnt. Moderne Straßenplaner versuchen Städtebau. Entscheidend ist, wie die Wege begrenzt werden und welche Richtung sie nehmen. Der wandernde Mensch macht neugierige Schritte nach links und rechts. Der Autofahrer bleibt im Tunnelblick. In den mittelalterlichen Straßen der Altstadt Quedlinburg kann man noch ohne das hupende Auto im Rücken auf den Straßen wandern, die sich um die Ecken biegen und auf denen sich die Häuser kulissenartig ins Blickfeld schieben. Zwei Blicke aus dem Fenster in den Stieg und die Hölle. Dem entschleunigten Paar im Weltkulturerbe Altstadt Goslar gefällt der sanfte Schwung der Straßenführung. Dem Autofahrer, der bei Tempo 80 den Gegenverkehr nicht sieht, eher weniger…

Das Wirksamste ist nicht die Form, sondern ihre Umkehrung , der Raum, das Leere, das sich rhythmisch zwischen den Mauern ausbreitet, von ihnen begrenzt wird, aber dessen Lebendigkeit wichtiger ist als Ihre Mauern.


August Endell – Die Schönheit der Großen Stadt (1908)

Es geht also um den menschlichen Raum in der architektonischen Hülle und nicht um die heute so beliebten, grafischen Fassadenspielereien. Endell schreibt sehr poetisch und atmosphärisch über das, was Stadt im Positiven wie im Negativen ausmacht: Die Monotonie auf Straßen und Plätzen, die Stadt als arbeitendes Wesen mit Industrieästhetik und Schönheit des Handwerks, die Wahrnehmung der Geräusche beim Durchwandern der Städte. Einen der schönsten Sätze formuliert Endell zur Wahrnehmung von Stadt als Naturraum.

Zu dieser verborgenen Schönheit, die nicht zu den Sinnen spricht (….) gesellt sich als zweite die Schönheit der Stadt als Natur. Das mag befremdlich klingen, weil diese Schönheit fast immer übersehen wird, weil man gar nicht gewohnt ist, eine Stadt so anzusehen, wie man Natur wie man Wald, Gebirge und Meer ansieht.

Vielleicht liegt in diesem liebevollen Blick auch das Geheimnis, negative Erscheinungen der Stadt positiv zu verändern. Also beim nächsten Spaziergang die Augen schließen und hinhören (Die Stadt der Geräusche), hinschauen auf die Stadt und ihre Farbveränderungen im Nebel, Dunst , Dämmerung, Sonnenlicht und den Spiegelungen des Regens (Die Stadt als Landschaft). Erst diese Mächte formen aus den scheinbar unveränderlichen Steinhaufen ein lebendiges, ewig neu sich gestaltendes Wesen. Heutige Architekten würden nie so schreiben wie Endell vor über 100 Jahren und deshalb auch nicht so bauen. Gedanken formen Architektur. Eigentlich ganz einfach und doch so selten.

Liegt vielleicht auch daran, dass Endell Philosoph und Psychologe war und in die Architektur erst als Autodidakt kam. Auf jeden Fall mein Lieblingskapitel im Buch. Unter Mensch und Straße beschreibt Endell die räumliche Wirkung und die Bezüge des sich bewegenden Menschen auf dem linearen Element der Straße.

Schon ein einzelner Mensch, ein bewegter Punkt genügt, um die ordentliche symmetrische Straße in ihrem Eindruck zu verschieben, sie bekommt gewissermaßen eine menschliche Achse, eine asymmetrische, der freie Raum wird durch den bewegten Körper geteilt, Entfernung und Größe bekommen einen neuen Sinn (…) Der Mensch schafft durch seine Gestalt das, was der Architekt und Maler den Raum nennt, der ganz etwas anderes ist, als der mathematische oder gar der erkenntnistheoretische Raum ist.

August Endell – Die Schönheit der Großen Stadt
(1908)

Allerdings stammt diese Wahrnehmung der Straße vom Anfang des 20. Jahrhunderts , als der Individualverkehr aus Droschken bestand und der Güterverkehr durch Pferdefuhrwerke erledigt wurde. Die Prägung der Straße durch den Menschen hat sich längst erledigt. Heute winden sich Blechschlangen über den Asphalt oder besetzen die Ränder wie hier in der Glünderstraße in Hannover, die wegen ihres tollen Verlaufs und der begleitenden Bebauung als schönste Straße der Nordstadt gilt. Problem nur, dass die Schönheit zugeparkt ist – beneidenswerter August Endell. Deshalb hier zum Trost nochmal zwei Menschen, die im Fluchtpunkt einer autofreien venezianischen Straße stehen. Mehr städtische Aufenthaltsqualität gibt es nur mit weniger Autos. Dazu Rob Krier zu einer Zeit, als die Kritik am motorisierten Individualverkehr trotz Ölkrise noch in weiter Ferne lag.

Die Straßenanlagen, die uns unsere Städte überliefert haben, sind für ganz andere Funktionsabläufe erfunden worden. Sie sind im Maßstab des Menschen, des Pferdes, der Kutsche erdacht. Zur Kanalisierung des motorisierten Fahrverkehrs ist die Straße untauglich, als Bewegungs- und Erlebnisraum für den Menschen jedoch nach wie vor geeignet.

Beängstigend bleibt die Masse der Fahrzeuge und die Geschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegen. Beide Faktoren scheinen nach der heutigen Entwicklung kaum zu korrigieren. Im Gegenteil, niemand kann heute voraussagen, welch katastrophale Ausmasse sie annehmen wird und welche Lösungen zu ihrer Bewältigung bereit stehen müssen. Geradezu grotesk mutet die düstere Ahnung an, dass eines guten Tages die gigantischen Straßenbauwerke bei notwendiger Umstellung auf andersartige Fahrzeugsysteme nutzlos in der Landschaft herumstehen. Ja man neigt zu der Behauptung, dass nach den Investitionen in das Auto und seine Belange eine Umstellung grundlegender Natur auf lange Sicht nicht mehr zu bewerkstelligen ist. Soviel um zu verdeutlichen, dass zwischen den Investitionen in die Bedürfnisse Maschine = Auto und die Bedürfnisse des Lebewesens = Mensch eine enorme Kluft besteht, und dass wir den Preis zur Wiederherstellung des Stadtraums bezahlen müssen, wenn diese Gesellschaft das Leben in der Stadt noch weiter für sinnvoll halten soll.


Rob Krier – Stadtraum in Theorie und Praxis (1975)

In Hameln mussten ab den 70er Jahren viele der historisch verschachtelten Stadträume der Flächensanierung weichen. Es entstanden offene Nichträume ohne Raumkanten dafür aber mit ausreichend PKW Stellplätzen. Vereinzelt findet man in Hinterhöfen noch die ursprüngliche Qualität. Eine Baumkrone als Raumdecke oder menschliche Spuren wie die Wäsche im Wind. Diese Räume waren intensiv genutzt und vom Alltag der Bewohner geprägt. Heute stehen dort Autos. Im Morgengrauen schaut man aus dem Fenster in die mittelalterliche Straßenräume Quedlinburgs. Offen, was hinter der nächsten Ecke wartet. Vom Dunkel ins Licht, auch eine typisches Merkmal von manchen Wegen. Durch den dunklen Bogen unter der Krämerbrücke in Erfurt in die hell leuchtende Altstadt.

Rem Koolhaas sagt spannende Sätze zu öffentlichen Räumen.

Unser Engagement für die Menschen hat die humane Architektur verschwinden lassen. […] Junk-Space ist die Summe unserer heutigen Architektur; wir haben so viel gebaut wie alle Generationen vor uns zusammen, allerdings auf einem völlig anderem Niveau. Junk-Space ist das Aufeinandertreffen von Rolltreppe und Klimatisierung, empfangen in einem Brutkasten aus Gipskartonplatten (alle drei fehlen in den Geschichtsbüchern). […] Konzeptionell ist jeder Monitor, jeder Fernsehbildschirm ein Ersatz für ein Fenster, das wirkliche Leben findet drinnen statt, der Cyber-Space ist zur freien Natur geworden.


Rem Koolhaas – Junk-Space (2000)

Wir möchten, dass die Menschen unbegrenzt konsumieren, also bauen wir Shopping Malls. Wir möchten, dass der globale Mensch uneingeschränkt jeden Ort auf dieser Erde in möglichst kurzer Zeit erreicht. Also bauen wir in unvorstellbarer Dimension Autobahnen und Flughäfen. Am Ziel muss man sich dann natürlich auch flexibel mit dem Fahrzeug bewegen können. Deshalb besetzen wir den öffentlichen Raum in den Städten bis direkt vor die Wohnbereiche und Einkaufszonen mit PKW Stellplatzflächen. Dieser Junk-Space bei Rem Koolhaas steht analog zu den Nicht-Orten bei Marc Auge.

Wie immer im April der Hannover Marathon. Die beiden Bilder haben fast symbolhaften Charakter. Kein Auto auf der Straße und nur die Läufer überholt von der Stadtbahn. Nur der Mensch und der öffentliche Nahverkehr. Sonst undenkbar in Hannover. Ein unerfüllter Wunschtraum unseres Oberbürgermeisters. Auch die sonst zugeparkten Randbereiche sind belegt von mobilen Musikanlagen, Sambagruppen und Campingstühlen. Was für eine Vision. Leider nur ein Tagtraum. Ein paar verirrte Autofahrer stehen wie jedes Jahr vor den Absperrungen der Laufstrecke und jammern aus ihrem Cockpit heraus über das Schicksal der verloren gegangenen Mobilität.

Sprachraum-Architektursprache

Glaubt man im Studium, dass Architektur sich aus dem Nichts heraus neu erfinden lässt, dann ist das sicher eine Form von Naivität. Befördert oft von Professoren, die genau das in den Entwurfskorrekturen mit dem originär Neuem, bisher nie Dagewesenem suggerieren. Glaubt man das Gleiche immer noch später im Berufsleben, dann ist es eher Arroganz. Architektur ist eine Sprache, die sich weiterentwickelt.

Die Formenwelt der Architektur ist nicht erfunden worden, sondern sie ist gewachsen. Sie wurzelt vor allem tief in den Perioden menschlicher Kultur (…). Auch die Formen müssen, wenn sie zur verständlichen Sprache werden sollen, Erinnerungsbilder auslösen können. Man kann den Schatz solcher Erinnerungsbilder anreichern, aber niemals mit einer Formensprache von vorn anfangen. Es fehlt ihr dann die wesentlichste Grundbedingung , die triviale Verständlichkeit. Es ist in der Tat unsere eigentliche architektonische Vergangenheit, in deren Vorstellungswelt wir uns einleben, um selbst architektonisch denken zu lernen. […] Denn erst mit neuen Ideen wächst der Umfang der Formensprache über das Traditionelle hinaus.

[…] und die Idee eines Bauwerks […] ist ein Komplex undeutlicher Vorstellungen nicht nur baulicher, sondern auch rein technischer, wirtschaftlicher und sozialer Natur. (…) Bauliche Ideen sind abhängig von den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen einer Zeit, aus denen die baulichen Bedürfnisse hervorgehen; aber sie erhalten eine architektonische Form erst, wenn sie zu architektonischen Ideen werden, und diese entsprechen dem künstlerischen Wollen, den künstlerischen Absichten einer Zeit; die künstlerische Verwirklichung aber, die eigentliche künstlerische Gestaltungskraft beruht auf der Stärke des anschaulichen Denkens im Vorstellungsbild. Deshalb entsteht aus der Fülle baulicher Ideen, wie sie z.B. die neuere Entwicklung unseres wirtschaftlichen Lebens mit sich gebracht hat, nicht etwa automatisch eine neue Architektur – womit unser zeitgenössisches Selbstgefühl sich so gerne schmeichelt. – Das könnte erst der Fall sein, wenn im gleichen Maße architektonisches Denken zur Herrschaft käme, um architektonische Ideen und Vorstellungsbilder zu schaffen.


Friedrich Ostendorf in Sechs Bücher vom Bauen. Erster Band Einführung (1913) in Kapitel II – Architektonisches Denken und Architektonische Formensprache und Kapitel VII – Die Baukunst des Mittelalters und die Baukunst der Renaissance.

Zugegeben, nicht einfach zu durchdringen, diese 110 Jahre alte, akademische Sprache. Deshalb ein etwas frischerer Gedankengang von Daniel Liebeskind, der einen ähnlichen Kritikansatz hat zur trivialen Eindimensionalität im Denken des architektonischen Raums.

Architektur und Architekturausbildung reflektieren genauer vielleicht als alle anderen Künste die Gesellschaftsordnung, die Ideologie der formalen Gestaltung und die Grenzen , jenseits deren die Formen unakzeptabel und einfach als irrelevant und ordnungswidrig eingestuft werden. […] Üblicherweise wird an Architekturschulen gelehrt, daß gewisse Strukturen und Entwürfe natürlich, angemessen und methodisch sind, kurzum repräsentativ für die Welt, und daß andere, besonders solche, die Elemente von Phantasie enthalten, eine andere Art des Denkens oder keinen Respekt vor dem bestehenden Produktionssystem erkennen lassen, unakzeptabel und unnatürlich sind.

Daniel Liebeskind
Symbol und Interpretation(1980)

Woran liegt es eigentlich, dass all die klugen akademischen Diskussionen aus den Universitäten, den Architekten- Und Ingenieurskammern und natürlich auch meine eigenen altklugen Gedanken in diesem Blog in der Realität des Bauens nicht ankommen? Es ist die gleiche Antwort wie zum heruntergekommenen (Schul)Bildungssystem. Diese Institutionen haben keine Macht. Sie entscheiden nicht über das, was gebaut wird und wie das System sich entwickelt. Das wusste schon der Bauhaus Lehrer László Moholy-Nagy vor fast hundert Jahren. Bauunternehmer kann man im Zitat auch einfach durch Investor ersetzen.

die wenigen Menschen, die auf grund ihrer erkenntnisse seit langem zur durchdenkung und aktivierung neuer Möglichkeiten drängen, werden zur praktischen arbeit selten herangezogen. das erste und letzte wort hat heute im allgemeinen der bauunternehmer. […] die gestaltung des raumes wird meist nicht diskutiert, vielleicht, weil ihr inhalt den wenigsten geläufig ist. […] das bedeutet, daß eine wohnung nicht nur durch preisfragen und bautempo, nicht allein durch mehr oder weniger äußerlich gesehene Relationen von verwendungszweck, material, konstruktion und wirtschaftlichkeit bestimmt werden kann, es gehört dazu das raumerlebnis als grundlage für das psychologische wohlbefinden der einwohner.


László Moholy-Nagy – von material zu architektur (1929)

Kronsrode steht beispielhaft für das eindimensionale architektonische Denken des kurzen Augenblicks mit Abwertung aller Bautraditionen und dem reinen Reproduzieren von engen Denkmustern, das Ostendorf und Liebeskind beschreiben. Ein rationalisierter Stil wird ohne Reflektion massenhaft reproduziert. Architektur wird zur rein technischen und ökonomischen Leistung und verliert so ihre tiefere Bedeutungsebene.

Jeder, der einmal einen Raum mit geheimnisvoller Ausstrahlung und Atmosphäre betreten hat, weiß, dass sich dieses Empfinden nur aus der oberflächlichen Technik, formalen Gestaltung und sichtbaren Baukonstruktion des Gebäudes nicht abschließend erklärt. Vereinfacht ausgedrückt nimmt sich die Bauwirtschaft nicht die notwendige Kreativität um aus allen Richtungen zu denken, sondern baut mit voreingestellten Beschränkungen. Nur die Aufnahme aller kulturellen menschlichen Quellen und Gedanken in den Entwurfsprozess führt zum architektonischen Entwurf. Etwas philosophisch ausgedrückt muss die Architektur aus den menschlichen Gedanken kommen und kann auch nur so wieder zum Menschen führen. Allerdings ist dieser Mensch nicht der homo faber von Max Frisch.

Dem neuen Stadtteilprojekt Kronsrode fehlt die umfassende und tragende architektonische Idee, die Metaebene. Ökonomie ist keine architektonische Idee, sondern nur eine von vielen planerischen Rahmenbedingungen. Die sich selbst schmeichelnden Entwickler in Kronsrode, die Ostendorf 1913 meint, ohne sie damals schon zu kennen, sind 2023 angetreten, Blöcke mit günstigem Wohnungsbau zu füllen. Dazwischen Abstandsgrün und kleinkronige Bäume. Das wars dann aber auch. Günstig ist eben nicht wirtschaftlich oder nachhaltig. Diesen Unterschied kennt sogar die VOB. Die Nachträge werden kommen. Seien sie wirtschaftlicher oder sozialer Natur.

so steht es z.b. außer diskussion, daß heute die errichtung von wohnhäusern für das existenzminimum dringendste notwendigkeit und nächstliegene aufgabe ist. doch selbst bei einer so begrenzt gestellten aufgabe wird man die gesetze, die in den großen biologischen zusammenhang gehören , nicht vergessen dürfen.


László Moholy-Nagy von material zu architektur (1929)

Aktuell sprechen wir über Abrisse von innerstädtischem Einzelhandelskomplexen und Betonbauten der Verwaltungs- und Büroarchitektur aus der Nachkriegszeit. Die intelligente, künstlerisch anspruchsvolle und sehr beliebte Gründerzeitarchitektur steht dagegen schon seit 150 Jahren. Ehemals großbürgerliche Grundrisse von 200 qm lassen sich sehr flexibel in kleinere Wohnungsgrößen verwandeln. Nicht zu reden von den qualitätvollen, kleinmaßstäblichen Außenräumen dieser Stadtviertel. Das funktioniert, weil diese Architektur eine tragende Idee besitzt, die nicht nur rein wirtschaftlich entwickelt wurde. Wie diese Idee und der sogenannte menschliche Masstab in einer Eingangssituation zum Wohnen aussehen kann, zeigt das Beispiel aus der Nordstadt. Die Zentrale der Hanova liegt etwa einen Kilometer von diesem gründerzeitlichen Eingang entfernt. So dicht dran und doch übersehen. Oder nicht verstanden. Eingänge sind räumlich plastische Übergänge und keine Türblätter, die man in die Fassade einschneidet und an den Bordstein stellt.

Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.


Heinrich Zille

wasserstadt-limmer.de

Kronsrode | Draußen in der Stadt.

OHE-HÖFE – gemeinschaftlich wohnen

Bewegung im Raum

Ein Beispiel aus Neuruppin. Gebäude, Durchfahrten, Höfe und Durchblicke, die sich an der Stadtmauer aufreihen. Der Architekt Friedrich Ostendorf beschrieb 1913 derartige Raumfolgen als Aufreihung von Raumgruppen an einer dynamischen Achse.

Das Verhältnis der Räume zueinander wird umso klarer werden und die architektonische Wirkung der ganzen Raumgruppe wird umso stärker, je folgerichtiger diese Achse für alle Räume die Symmetrieachse bildet. […] Aber es handelt sich bei solchen Anlagen nicht um das von einem Standpunkt aus mit einem Blick erfassbare Einzelbild, sondern um den ganzen Raumzusammenhang aller durch die Symmetrieachse architektonisch aneinander gebundenen inneren und äußeren Räume; ein Zusammenhang , der beim Durchschreiten der Raumbilder in der Richtung gebenden Symmetrieachse in zeitlicher Folge zum Bewußtsein kommt. So wird aus einer Einzelwirkung oder auch aus mehreren Einzelwirkungen , die sich zusammenhanglos nicht steigern, sondern unter Umständen sogar abschwächen, durch eine in der Symmetrieachse angelegte eine gesteigerte Wirkung in Intervallen.


Friedrich Ostendorf in Sechs Bücher vom Bauen. Erster Band Einführung (1913) in Kapitel VI –
Raumgruppen

Der legendäre Hamburger Stadtbaudirektor Fritz Schumacher formuliert 1926 ähnliche Gedanken zur Bewegung des Menschen in der Architektur :

Die zeitlich sich abrollenden Wirkungen der Bewegung bringen es mit sich, daß wir das optisch garnicht faßbare Bild der organischen Idee eines Architekturgebildes in uns tragen und dieses Bewegungsbild mit dem jeweiligen optischen Bilde bewußt oder unbewußt verbinden. […] – das Bild vom Saal des Würzburger Schlosses, das wir in uns aufnehmen , ist untrennbar verbunden mit dem Bewegungs-Erlebnis des Treppenlaufs […] Wir tasten das organische Raumgefüge nicht nur mit dem Auge, – das es in Bilder zerlegt, – sondern durch die Bewegung mit unseren ganzen Körperlichkeit ab.


Fritz Schumacher – Das bauliche Gestalten (1926)

Die Neuruppiner Stadtmauer bildet diese Bewegungsachse, die uns in die Tiefe führt. An dieser Linie durchschreiten wir Grenzen und betreten die aufgereihten Außen- und Innenräume in einem Wechsel von Enge, Weite und Höhe. Immer sind es Öffnungen, Durchbrüche, Durchblicke, Fenster und Türen, die uns, neugierig geworden, weiterführen. Am Ende haben wir diese spannende architektonische Raumfolge durch eigene Bewegung und Positionswechsel verstanden.

Genauso wählen wir einen bestimmten Sitzplatz im Cafe oder treten durch bestimmte Durchgänge, weil wir dahinter einen schönen Ort erwarten. Wolfgang Meisenheimer beschreibt diese Orientierung im Raum und den Raumwechsel in seinem Buch Das Denken des Leibes und der architektonische Raum (2004) mit den Begriffen atmosphärische Inseln und Erlebnisinseln.

Das Gegenüberstehen, Drinsein, Draufstehen, Hinübergehen, Eintreten usw. eben die eigene Bewegung als Orientierungshandlung, bringt uns in die Lage des ersten Verstehens. (…) Wir ziehen einen besonderen Sitzplatz vor, wir scheuen einen Tür-Durchgang, werden von einem Garten verzaubert usw., die angebotene Szene erweist sich als brauchbar, willkommen oder bedrohlich.


Wolfgang Meisenheimer – Das Denken des Leibes und der architektonische Raum (2004)

Am deutlichsten findet sich der künstlerische Wechsel der Raumperspektive mit Filmschnitt und Kameraschwenk im Kino. Auch wir bewegen uns durch Räume und Umgebungen wie in einem filmischen Spannungsbogen. Raum spielt im Film als künstlerisches Mittel auf der zweidimensionalen Leinwand neben der schauspielerischen Qualität eine entscheidende Rolle. Im Film Der Leuchtturm (2019) ist dies eindrucksvoll spürbar. Der psychische und physische Kampf eines Leuchtturmwärters mit seinem Gehilfen hätte ohne die bedrückende Enge des Leuchtturms und die bedrohlichen Naturgewalten der Außenräume auf der abgelegenen Insel vor der kanadischen Küste deutlich weniger suggestive Kraft. Gesteigert wird dies noch durch die Schwarzweißästhetik und das enge Bildformat.

DER LEUCHTTURM TRAILER (2019) (youtube.com)

Überfüllte, bunte Räume und triste, leere Räume zeigt der Film Alles In Bester Ordnung (2021) in dem sich 2 Menschen mit 2 völlig unterschiedlichen Raumvorstellungen begegnen.

ALLES IN BESTER ORDNUNG | Offizieller Trailer | Deutsch (youtube.com)

Der Philosoph Gernot Böhme findet in seiner Schrift Atmosphäre (1995) bildhafte Worte, mit denen er unser ständig wechselndes Raumerleben beschreibt:

Wir nennen diesen primären und in gewisser Weise grundlegenden Gegenstand der Wahrnehmung die Atmosphäre. Deutlich wird deren Priorität bei einem Wahrnehmungsschwenk oder, sagen wir es noch deutlicher mit der Filmtechnik , bei einem Schnitt, mit dem man gewissermaßen in eine neue Welt eintritt. Zum Beispiel: Man kommt aus einer belebten Straße und betritt einen Kirchenraum. Oder man betritt eine noch unbekannte Wohnung. Oder man hält zur Rast bei einer Autofahrt an, geht ein paar Schritte, und plötzlich öffnet sich der Blick aufs Meer.

Gerade die Architektur produziert in allem, was sie schafft , Atmosphären. (…) Gebäude , Innenräume, Plätze, Einkaufscenter, Flughäfen, städtische Räume wie Kulturlandschaften können erhebend sein, bedrückend, hell, kalt, gemütlich, feierlich, sachlich, sie können eine abweisende oder eine einladende, eine autoritative oder eine familiäre Atmosphäre ausstrahlen.

Gernot Böhme – Atmosphäre (1995)

Das, was der Philosoph demgegenüber (der reinen äußerlichen Gestalt) in Erinnerung zu bringen hätte, ist, daß es niemals bloß um die Gestaltung eines Gegenstandes geht, sondern immer zugleich um die Schaffung der Bedingungen seines Erscheinens.

Das schon an anderer Stelle beschriebene Bad Zwesten hat zwar einen sehr hässlichen Ortsausgang, aber auch eine traditionelle Musikkneipe. Etwas, das wir an Irland sehr bewundern, das es aber in deutschen Dörfern und Städten kaum noch gibt. Manchmal denke ich, die Kneipen verloren ihre Qualität und Individualität mit dem Verschwinden des 0,2 Liter Pilsglases. Es gibt immer weniger gute gastronomische Räume, weil es auch immer weniger Kneipen gibt. Laut Hotel- und Gaststättenverband gab es 2013 noch 32.348 Kneipen, 2022 nur noch 19.201. Ein sozialer Kommunikationsraum verschwindet. Das Spandau in der Nordstadt Hannover betreibt tatsächlich ein Architekt. Zu allen Tages- und Jahreszeiten spürt man hier den Gestaltungswillen. Der Weg zwischen Straße und Glasfassade wird zum Wohnraum. Für den fließenden Übergang zwischen Innen und Außen öffnen sich die großen Schiebeelemente.

In der Musikkneipe in Bad Zwesten traf ich den Historiker und Tennisspieler aus Kassel. Sehr persönliche und ungewöhnliche Gründe führten uns durch Zufall oder Vorbestimmung an diesem merkwürdigen und vergessenen Ort zusammen. Einige Gespräche später schenkte er mir auf einem abgerissenen Zettel ein Zitat von Georg Christoph Lichtenberg, das auch zu den schlechten städtebaulichen Räumen unserer Zeit passt.

Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.

Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799)

Eigentlich ein schönes Schlusswort für diesen Beitrag, aber ich bin hier noch nicht fertig.

blackpearl-badzwesten.de

SPANDAU Projekt

Schaut man in die Architekturmagazine, egal ob in die Print Medien mit Zielgruppe Bauherr(in) oder die für das Fachpublikum der Planer(innen), dann wird regelmäßig die Architektur als Baukörper, als plastische Skulptur und ikonisches Bild in den Himmel gelobt. Selten wird über Räume gesprochen. Man könnte es aber auch radikal anders sehen wie beispielsweise Fritz Schumacher, der schon 1926 den entscheidenden Satz schrieb.

[…] ist im gegenteil das Mittel, durch das sich der eigentliche Zweck des Bauwerks erfüllt, garnicht die Außenerscheinung, sondern die Innenerscheinung des vom plastischen Körper umschlossenen Raumes. […] So ist die Rolle, die das Körperliche im Bauwerk spielt, etwas ganz Eigentümliches, nur der Baukunst Eigenes, der Körper ist gleichsam nur die Scheidewand zwischen zwei Raumwelten: der Raumwelt des Innern und der Raumwelt des Äußeren. […] Die Raumgestaltung ist das Ziel, die Körpergestaltung das Mittel. Die Raumgestaltung ist das beherrschende , die Körpergestaltung das dienende Prinzip. […] Architektur ist die Kunst doppelter Raumgestaltung durch Körpergestaltung.

Fritz Schumacher – Das bauliche Gestalten (1926)

Um es mal etwas provokativ zu sagen: Folgt man diesen Gedanken konsequent, dann müssten alle Architekturwettbewerbe nach der Raumqualität der Außen- und Innenräume, die der architektonische Körper voneinander trennt, entschieden werden. Dem ist aber üblicherweise in den Wettbewerbsentscheidungen nicht so. Hochgejubelt besprochen werden eher Baukörper und stilistisch plakative Fassadenthemen.

Die Planung zur Wasserstadt in Hannover Limmer war eine Orgie von Wettbewerbsentwürfen und Präsentationen mit Öffentlichkeitsbeteiligung. Schaut man sich jetzt das Endergebnis der tatsächlich realisierten Außenräume an, wird der Investor selbstbewusst dazu sagen: Hat sich wirklich gelohnt. Die Autos fahren in die Untergeschosse der Townhouses oder stehen an den breit gepflasterten Fahrwegen mit kümmerlicher Randbegrünung. Wem gehören nochmal die Außenräume im Wohnumfeld? Sah die 3D Animation des Quartiers im Wettbewerb nicht noch ganz anders aus?

Architektur ist Arbeit mit Raum(vorstellungen). Alle bisher hier zitierten großen Namen der Architekturgeschichte und Theorie sind sich einig über diese zentrale Aussage. Der architektonische Körper und die stilistischen Flächengestaltungen der Fassaden sind dabei nur Mittel zum Zweck. Hermans Sörgel sagt dazu:

Die Eigenart der Architektur muß in etwas bestehen, das allgemein für alle Zeiten und Stile gemeinsam zutrifft und nicht etwa in Eigentümlichkeiten, welche nur für eine besondere Stilrichtung oder Zeitepoche gelten.

In der Tat hat die Architektur – obwohl als reine Zweckerfüllung immer Raumbildung – in ihrer Entwicklung als Kunst einen langen, harten Kampf nicht nur mit dem Körperhaften, sondern auch mit dem Flächenhaften geführt, bis sie sich zum entschieden Raumbildenden im höchsten Sinn durchgerungen hat.

Der byzantinische und auch der romanische Stadtbau bevorzugten wie der ägyptische die Fläche bei ihren Raumbildungen, der gotische, ebenso wie der griechische Stil mehr den Körper. die Renaissance erinnert in der Vereinigung von Fläche und Masse an den römischen Baustil, indem beide das eigentlich räumliche Element in den Vordergrund stellen. So kann man eine gewisse periodenhafte Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des Raummäßigen erkennen und feststellen.


Hermann Sörgel – Architektur-Ästhetik (1918)

Das Bauhaus oder die Gründerzeit sind also nicht per se gut oder schlecht, sondern erst dann Architektur, wenn Räume entstehen, in denen Menschen sich wiederfinden. Die Tristesse der großen Nachkriegssiedlungen, die auf die Einfachheit des Bauhauses Bezug nahm, ohne die gleichen räumlichen Qualitäten zu liefern, gehört sicher nicht dazu.

Ein gutes Beispiel für Raumqualität ist die Gebäudeflucht und Sichtachse an der neuen Konzernzentale des Energiekonzerns Enercity in Hannover. Fertigstellung 2023 und mit 20.000 qm Nutzfläche das aktuell größte Passivhaus Gebäude Deutschlands. Der Blick geht an der Fassade entlang auf die Historismus Architektur der Braunstraße. Über die Fassadenstile der alten und neuen Architekturoberflächen muss man nicht diskutieren. Die Stile sind räumlich nicht relevant. Denn die Wirkung des dynamischen Zwischenraums macht das eigentliche Architekturerlebnis.

Gleiches gilt für den Schulhof vor meinem Gymnasium in Rinteln. Wir haben ihn in meiner Schulzeit nie als Aufenthaltsbereich wahrgenommen. Heute weiß ich warum. Ein Nichtraum, nur Übergang zur Bushaltestelle und Parkplatz. Erst mit dem Neubau der Integrierten Gesamtschule gegenüber kam die Aufenthaltsqualität und die geschlossene Raumkante. Jetzt schauen sich beide Schulen an und geben dem Platz Ruhe und ein Gesicht. Etwa 50 Jahre liegen zwischen dem Betonsystembau und dem Holzständerbau. 50 Jahre ohne Zwischenraum! Auch hier funktioniert das neue Raumerlebnis ganz unabhängig von den beiden unterschiedlichen Architekturkonzepten und Fassadenmaterialien. Sie bilden nur die Kulisse. Entscheidend ist der geschlossene Platzraum. Bilder vom Innenraum des Holzbauschule unter Fachwerk und Beton.

[…] aber so wie es möblierte Zimmer und auch leere gibt, so könnte man von eingerichteten und noch uneingerichteten Plätzen reden, die Hauptbedingung dazu ist aber beim Platz sowie beim Zimmer die Geschlossenheit des Raumes.

Camillo Sitte – Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889)

Diesen Vorrang des architektonischen Raumes gegenüber der Fassadenausbildung sehen Bau- und Kunsthistoriker, insbesondere die, die sich in der Denkmalpflege bewegen, erstaunlicherweise oft ganz anders. Sie denken Architektur in Baustilen. Das müssen sie auch, denn sonst verschwindet ihre Existenzberechtigung. Die Wahrheit ist: Fassadenstile sind Zeitzeugnisse, interessant aber oberflächlich, flüchtig und der architektonischen Idee untergeordnet. Stile dienen dem Raum. Entscheidend ist der von ihnen erzeugte Raum, das Raumgefühl. Daran bemisst sich die Qualität von Architektur. Jede Stilepoche hat schlechte und herausragende Raumqualitäten.

Die Fassade als notwendige harte Grenze und Trennung zwischen Innen- und Außenraum zu betrachten ist auch eher ein konservativer Gedanke, der dem menschlichen Bewegungsraum nicht annähernd folgt. Der künstlerisch installierte Raum im Park des Edelhofs in Hannover Ricklingen, aufgehängt aus Bettlaken und Gardinen wie Wäsche in Wind und Sonne, verblüfft durch ein Raumgefühl von Übergängen, Transparenz und Unendlichkeit. Gerade sitzt man noch geborgen zwischen den textilen Schleiern und blickt auf die schemenhafte Umgebung, da reißt plötzlich ein Windstoß die leichte Hülle auf und wir sind wieder zurück in der Realität. Vielleicht ist der Künstler dem Architekten doch überlegen. Ich beginne mich langsam selbst zu widerlegen. Staunend und fasziniert saß ich auf dem Klappstühlen zwischen den wogenden Stoffflächen. Übrigens das einzige Kunstobjekt, das mich an diesem sonnigen und windigen Sommertag im Park vor der Kulisse des alten Gutshofs wirklich beeindruckt hat. Die Künstler vom Atelier Anthrazit in Hannover nennen ihr Werk T/Raum. Ich werde ihnen mal schreiben und mich für das Erlebnis bedanken.

Ein Schritt durch die dünnste aller Türen genügt, um eine Welt zu verlassen und die andere zu betreten.

Rudolf Arnheim – Die Dynamik der architektonischen Form (1977)

Wie ist es also mit dem jahrhundertealten Richtungsstreit zwischen Malerei, Bildhauerei und Baukunst. Wer hat den legitimen Anspruch, die Hoheit über die Raumbildung? Ist Kunst nur Raumdarstellung? Ich habe eine leichte Tendenz zur Architektur. Denn sie ist das dreidimensionale Medium, das uns umgibt und in dem wir uns bewegen. Das provoziert heftigen Widerspruch und ist mir bewusst. Manche Künstler sind in ihrer zweidimensionalen Raumdarstellung so gut, dass mir hin und wieder Zweifel kommen. Wie zu Johannes Vermeer (im Beitrag Lesenswert ) oder der im Wind wogenden Wäsche in einem alten Park.

Die Ausstellung Suspense in der Galerie Drees Hannover war dann auch wieder so ein Moment der Unsicherheit in meinem Selbstbild als Architekt. Drei Künstler mit drei tollen Varianten der Raumbildung: Thomas Dillmann, Jens Hausmann und Max van Dorsten. Hyperrealistische Gemälde von Stadt- und Landschaftsräumen, digital abstrahierte und reduzierte Fotografien und fiktive Architekturen, die an die Glashäuser von Richard Neutra, Mies van der Rohe oder Philip Johnson erinnern. Die Bilder sprechen. Alles in einer Perspektive. Mein Standort, um mich herum die historischen Raumbegrenzungen der Galerie, an der Wand die fiktiven Räume der Künstler und draußen vor den Fenstern die realen Räume des tristen Gewerbegebietes.

Womit wir wieder beim Thema sind. Man bekommt gegenwärtig in der Bauwirtschaft den Eindruck, gutes Bauen basiere ausschließlich auf Wirtschaftlichkeit, Funktionalität und baulogistischer Effizienz. Einzelne Ausnahmen von hoher architektonischer Qualität nehme ich hier ausdrücklich aus. Diese Ideologie spricht der Architektur jegliche Emotion und Sinnlichkeit ab. Dann könnte man auch gleich behaupten, das Menschsein bestünde nur aus Körperfunktionen ohne irgendeine geistige Gefühlsebene. Es scheint ein bisschen so, als ob die Bauindustrie mit Legosteinen spielt, ohne dabei nachzudenken oder Spaß zu haben. Mit Lego bauende Kinder sind da eindeutig kreativer und weiterentwickelt. Auch ich habe in dieser Zeit noch glücklich und zufrieden gebaut. Die Steine gibt es noch.

Die neue enercity-Konzernzentrale

Galerie Drees | Zeitgenössische Kunst in Hannover

ATELIER ANTHRAZIT

Architektonischer Raum nach einer unruhigen Nacht. Morgenlicht und Schattenwurf auf dem faltigen Kopfkissen. Wer ahnt beim Aufwachen schon, wie kompliziert es jetzt wird.

Die Falte – ein räumliches Thema bei Peter Eisenmann in Visions Unfolding (1992). Eisenmann bezieht sich in seiner Architekturtheorie auf den französischen Philosophen Gilles Deleuze, der aus den Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646- 1716) eine Philosophie der Falte entwickelt. Nach Eisenmann zeigt die unendliche Abwicklung der Falte das Zusammenfließen von Innenraum und Außenraum. Der gefaltete Raum verändert die bisherige klassische Architekturwahrnehmung, die den dreidimensionalen Raum planerisch in eine zweidimensionale Ebene projeziert. Die Falte lässt sich mit dieser Art der traditionell darstellenden Geometrie nicht mehr greifen und abbilden. Schon die Architekturtheorien von Peter Eisenmann sind für mich ohne Philosophiestudium schwer zu ergründen. Den Ursprungstext Die Falte (2000) von Gilles Deleuze habe ich mir in meinem grenzenlosen Optimismus dazu geholt und verstehe vielleicht 20 Prozent von dem, was er formuliert. Und wer sich noch weiter verlieren möchte in einem unendlichen Gedankengebäude, der schaut mal bei Gottfried Wilhelm Leibniz vorbei, dem Wissenschaftler des Barock, auf den sich Eisenmann und Deleuze in ihren Raumtheorien berufen.

Leibniz – wahnsinnig im positiven Sinn und kreatives Genie. Unglaublich schon seine Erfindung einer mechanische Rechenmaschinen, einem Computer des Barock. Die Dimension seiner 100.000 handbeschriebenen Blätter ist aber nahezu unvorstellbar. Die Auswertung und Analyse beschäftigt ein fortlaufendes Forschungsprojekt. Kompliziert in der Analyse deshalb, weil Leibniz auf einem Blatt je nach Eingebung und Idee die zugeflogenen Gedanken aus unterschiedlichen Naturwissenschaften niederschrieb, Skizzen hinzufügte, die Blätter dabei drehte und dann zur Neusortierung nochmal auseinanderschnitt. Nur mit digitalen KI Assistenzsystemen kommt man heute zu einem annähernden Verständnis und einer Analyse. Diese Schwierigkeiten trösten mich etwas bei meinen eigenen Problemen, mich in der in der unendlichen Geometrie der Falte zu orientieren.

Digitale Rekonstruktion der „Leibniz-Handschriften“ –