Hotelkategorien sagen wenig über Aufenthaltsqualität. Zertifizierungen berücksichtigen auch den vorhandenen Mülleimer und eine angemessene Zimmerbeleuchtung. Was auch immer das bedeutet. Außerdem ist individuell empfundene Urlaubsqualität ein weiter Begriff. Für uns hatte das kleine Hinterhaus in Lychen (Uckermark) einen 5 Sterne Standard. Allerdings gab es keinen Hotelmanager, bei dem man sich nachts darüber beschweren konnte, dass der Marder aus dem zugewucherten und verfallenen Nachbarhaus fast ins Schlafzimmer unserer Ferienwohnung gesprungen wäre. Am Eingang fraß sich eine Holzwespe regelmäßig durch die Tür. Alles ein Zeichen für naturnahes Wohnen. Hatte ich vorher so noch nie gesehen. Im Nachbarhaus wohnte übrigens um 1900 der Uhrmacher Johann Kirsten, Erfinder der Reißzwecke. Mit Prominenten machen Hotels oft Werbung. Also auch dafür in Lychen mindestens 5 Sterne. Lychen liegt als Stadtinsel mitten in der Uckermärkischen Seenlandschaft. An der Villenbebauung des heute relativ unbekannten Ortes, selbst die Hunde schauen etwas gelangweilt aus dem Fenster, erkennt man noch den damaligen Wohlstand und die wirtschaftliche Bedeutung.
Das auffälligste Bauensemble im Ort sind die ehemaligen Heilstätten Hohenlychen. Deren Gründung 1903 als Sanatorium für Tuberkulose fällt zusammen mit der wachsenden Bedeutung als Luftkurort. Die schönste Restaurantatmosphäre besitzt die Mühlenwirtschaft mit Biergarten vor der alten Wassermühle. An der Strecke zwischen Lychen und dem Nachbarort Fürstenberg Havel liegt die Gedenkstätte des ehemals größten deutschen Frauenkonzentrationslagers. Unser Besuch zufällig auf einer Fahrradtour. Die nachwirkenden Eindrücke dafür umso intensiver. Ärzte aus dem Sanatorium Hohenlychen haben in Ravensbrück medizinische Versuche an Häftlingen durchgeführt.
Im Herbst 2020 dann in Neuruppin das Experiment zum Wohnen im Tiny House. Das Versuchsergebnis ist für uns familiendynamisch nicht zukunftsfähig. Mit den Erlebnissen in der Stadt am See haben wir dann unsere räumliche Grenzerfahrung kompensiert. Familiäre Dialoge im Tiny House gebe ich deshalb hier nicht wieder, sondern zeige schöne Aufnahmen mit Blick auf den Neuruppiner See.
Man muss in Neuruppin übrigens nicht in einer 8 qm großen Holzbox im Wald übernachten, sondern kann auch in der Fontane Therme mit Seesauna und angeschlossenem Hotel Wellness und Spa Urlaub machen. Einen energetischen Ausgleich zur Infrarotbeheizung in unserer Holzbox fanden wir im Restaurant Waldfrieden.
Das Auenland und die Hobbits im Harz. Eine Zufallsbegegnung auf dem Weg von Halberstadt nach Quedlinburg. Langenstein liegt als Ortsteil etwa 8 km vom Zentrum Halberstadt entfernt. Die Höhlenwohnungen entstanden zwischen 1855 und 1858. Zehn Wohnungen wurden von Landarbeitern, die sich keine andere Unterkunft leisten konnten, mit Hacke und Meißel aus dem Sandstein herausgearbeitet.
Die etwa 30 qm großen Wohnungen hatten Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer und Vorratsraum und wurden über Schornsteine belüftet. Übrigens wohnen die Schlümpfe in den Strandhäusern am Lido in Venedig. Endlich ist das Geheimnis gelüftet. Gesehen haben wir allerdings keine Bewohner, wir wollte aber auch nicht stören.
Was die historistischen Strömungen der Gründerzeit und der innovative Jugendstil sehr überzeugend geleistet haben, ist die Integration der damals neu entstehenden, städtischen Ladenflächen. Wie in der Fassade des Görlitzer Lebensmittelmarktes oder in der Altstadt von Den Haag nehmen die Formate der Schaufenster, die Lage der Stützen und Profile Rücksicht auf die Gestaltung der Obergeschosse. Im Schaufenster der Quedlinburger Ladenfassade ist selbst der Schiebelüfter gegen das Kondenswasser der Einfachverglasung in das künstlerische Detail integriert.
Ganz anders die sogenannten Häuser ohne Unterleib unserer Zeit mit großflächigen Glaselementen. Sie ignorieren in ihrer Fassadengestaltung vorhandene Proportionen und durchbrechen das historische Fassadenbild. Hier in Hameln sogar über zwei Geschosse. Im Beispiel aus der Oesterleystraße (Hannover Südstadt) wird der Laden in einen Mietswohnungsbau von 1928 integriert. Die Haustür zu den Wohnungen und der Ladeneingang stehen in Ihrer plastischen Ausbildung wie selbstverständlich gewachsen nebeneinander.
So einige Verhaltensweisen sind meinem Sohn ziemlich peinlich. Besonders genervt reagiert er aber auf meine Angewohnheit, Schubladen und Türen von historischen Möbeln zu öffnen. In Venedig war es mal wieder soweit. Sehr unscheinbar hinter den Arkaden am nördlichen Rand der Piazza San Marco findet man die Schaufenster zum ehemaligen Olivetti Showroom (Carlos Scarpa 1958). Tausende Touristen laufen jeden Tag an den relativ unscheinbaren Glasflächen vorbei. Kaum jemand interessiert sich für die Räume dahinter. So war es auch an diesem Tag. Nur zwei Studenten, die Details skizzierten – daran erkennt man sie , bewegten sich mit uns durch den Raum. Scarpa gilt als Meister der Fuge. Unter Architekten ist dieser Titel etwas überstrapaziert. Die Außenwelt, so wie die Touristen auf dem Markusplatz, kann damit allerdings wenig anfangen. Dabei ist die Fügung von Materialien und Ebenen eine uralte Frage, die sich heute jedem Einfamilienhausbauer im Wohnzimmer stellt. Was passiert, wenn im dreidimensionalem Raum aus verschieden Richtungen Türbekleidung, Bodenbelag, Wand und Fußleiste aufeinandertreffen.
Neubaustandard heute: Der Handwerker fummelt mit seiner Kappsäge irgendetwas zusammen. Niemand hat sich vorher Gedanken zum Detail gemacht und deshalb sieht es dann genauso aus zwischen folienlaminierter Zimmertürzarge, Bodendekor in Vinyl und profilierter, silikonverklebter Fußleiste. Scarpa beginnt mit der Fuge genau an diesen Knotenpunkten. Für das designorientierte Unternehmen Olivetti verwandelte er ein Volumen von 21 m Tiefe, 5 Meter Breite und 4 Meter Höhe in eine lichtdurchflutete Raumskulptur. Das Geheimnis dieses Raumgefühls ist, das man die Architektur nicht wie üblich als Tragwerk, Erschließung, Öffnung und Wand wahrnimmt, sondern als Körper mit Linien und Flächen, die dynamisch in alle möglichen Richtungen streben. Die schwebend abgehängten Olivetti Maschinen wirken durch die edle Materialwahl der Oberflächen aufbewahrt wie in einer Schmuckschatulle. Perfekte Raum- und Produktinszenierung. Als ich dann aber gedankenversunken und scheinbar unbeobachtet den Riegel eines Einbauschrankes langsam zurückschiebe um den Mechanismus zu verstehen…