Klein(e)Stadt

In einer Kleinstadt oder auf dem Land zu leben war für viele Großstädter wegen der vermuteten oder realen kulturellen Ödnis bislang undenkbar. Langsam ändert sich der Trend. Die Kolonialisierung Brandenburgs durch die Berliner oder die Übernahme des Wendlands durch die Hamburger sind Indizien.

In vielen strukturschwachen Kleinstädten und Dörfern des Harzes ist diese Entwicklung noch nicht angekommen. Ein kurzes Aufblühen im Wintertourismus reicht für eine konstante wirtschaftliche Dynamik nicht aus. Quedlinburg ist hier zusammen mit der Nachbarstadt Werningerode eine erstaunliche Ausnahme. Für das Weltkulturerbe lagen die Übernachtungszahlen 2018 bei fast einer halben Millionen und bei 1,2 Millionen Tagesgästen. Die Stadt mit ihrer mittelalterlichen Fachwerkkulisse ist Magnet der Region. Beruflich und privat war ich in den letzten Jahren regelmäßig dort. Der stetige Aufwärtstrend mit der kontinuierlichen Sanierung der Altstadt und den steigenden Besucherzahlen war auch beim letzten Ausflug im Spätsommer 2021 eindrucksvoll spürbar.

Die kurze Reise übers Wochenende war in Begleitung meiner Schwiegermutter ein soziologisches Familienexperiment mit zeitlich limitiertem Versuchsaufbau und offenem Ergebnis. Neben einigen etwas kritischen Situationen gab es als positiven Höhepunkt einen gemeinsamen, abendlichen Aufstieg zum Stiftsberg. Im gelben Licht der Laternen ging es zwischen den Bruchsteinmauern die Treppe hinauf. Hier genießt man den Blick auf die in der Dachlandschaft verschachtelten, kleinen Innenhöfe. In die atmosphärische Stille der Nacht sprach die Schwiegermutter dann den denkwürdigen Satz: Bei diesem tollen Blick fällt mir ein Lied ein: Die Kleine Stadt will schlafen gehen. Ich weiß aber nicht mehr, von wem das ist. Schnell recherchiert stellte sich heraus, dass das Lied bereits 1940 von Ilse Werner gesungen wurde.

Auf dem Handy erklang die Jazzvariante von Manfred Krug und wir blickten in den sternenklaren Stadthimmel. Musikgeschmack ist abhängig von Ort und Zeit. Zuhause fand ich Kleine Stadt von Hannes Wader plötzlich viel besser.

Die Lyonel Feininger Galerie passt gut zum kulturtouristischen Anspruch Quedlinburgs. Feininger war als Karikaturist ein Meister der schnellen Zeichnung (Zitat: Kinder malen unbekümmert – bis sie anfangen etwas zu lernen). Die hingeworfene Buntstiftskizze entstand 1934 auf Usedom. Für die langen Fahrradtouren, die Feininger dort unternahm, kaufte er sich regelmäßig hochwertige Rennräder. Ein Original steht in der Ausstellung.

feininger-galerie.de

Als Ortsteil von Bad Doberan mit nur 300 Einwohnern ist Heiligendamm keine selbstständige Stadt. Aber der Mythos lebt – Die Weiße Stadt am Meer. Als erstes deutsches Seebad von 1793 schon früh sehr elitär, ist die damalige Prominenz adeliger Herkunft inzwischen verschwunden. Zu DDR Zeiten wurden die Gebäude als Sanatorium und Kurklinik genutzt. Nach der Wende kam dann der Geldadel. Geschichte und Lage direkt am Ostseestrand eignen sich für die besonders lukrativen Investitionen. Besichtigen lässt sich eine blütenweiße Sanierung und Vermarktung. Reinweiß, weißer geht´s nicht. Kein dunkler Fleck soll den Zuckerguss trüben. Authentische Spuren der Geschichte sucht man an den polierten Fassaden vergebens. Und so flanieren wir am Ostseestrand gemeinsam mit den anderen Normalsterblichen wie im Zoo staunend vorbei an den unerreichbaren Residenzen und dem traditionsreichen 5 Sterne Grand Hotel mit Zugangskontrolle.

Neben den weißgewaschenen Fassaden findet man ein aufgeständertes Verkaufsmarketing.

Die anvisierten Zielgruppen aus der Raffaelo Werbung hängen zwischen frisierten Buchsbaumhecken und grüner Auslegeware – wohlhabende Pensionäre und dynamisch erfolgreiche Manager mit Familie und (weit) offenem Hemd und Geldbeutel. Geschlossener Immobilienfond nennt sich das Bauherrenmodell der Refinanzierung über Anlegeranteile und staatliche Subventionen. Die letzten unsanierten Villen lassen den Charme erahnen, den das Investment ihren Nachbarn bereits ausgetrieben hat. Die Repliken bereits abgerissener Originale sind der Gesamtatmosphäre auch nicht gerade dienlich. Da man im Ensemble nur drei Vollgeschosse errichten darf, muss die Dachlandschaft leiden unter einer endlosen Reihung von bodentiefen Stehgauben.

Welch ein Kontrast zum Schloss Kummerow und seiner authentischen Denkmalpflege. Noch schaut das Alexandrinen Cottage unsaniert und würdevoll herab aus seiner erhöhten Hanglage. Zugegeben, dreht man sich zurück zur Ostsee, ist der Strand wirklich toll. Informationen und Wohnungspreise gibt es auf dem aufwendig gestalteten Immobilienportal.

die-weisse-stadt-am-meer.de

Während in Heiligendamm die Legende lebt, liegt eine andere Investition desselben Investors noch im Dornröschenschlaf: Die Halbinsel Wustrow. Nur über den sogenannten Wustrower Hals, einem sehr schmalen Zugang, ist die Halbinsel mit dem Ostseebad Rerik verbunden. Die Landzunge verläuft auf einer Länge von 12 Kilometern und einer Gesamtfläche von 1000 Hektar parallel zur Ostseeküste fast bis zur Insel Poel. Beim Weiterbauen der historischen Siedlung zum Tourismusresort beruft man sich auf den Architekten Heinrich Tessenow (1876-1950) und die Gartenstadtidee der Reformarchitekten. Etwas merkwürdig klingt das schon, wenn auf der Seite des Projektentwicklers zu Tessenows damaliger Architekturintention formuliert wird: Dabei stand die Schlichtheit und Sachlichkeit bei der Errichtung bezahlbaren Wohnraums im Fokus.

Aber kurz zur jüngeren Geschichte der Insel. Nachdem das Gut mit den traditionell landwirtschaftlich genutzten Flächen 1933 vom letzten Gutsherrn von Plessen an die Reichswehr verkauft worden war, wurde es zum größten Ausbildungsstandort der deutschen Flakartillerie mit Luftwaffenstützpunkt und Luftabwehr ausgebaut. Nach Plänen von Heinrich Tessenow entstanden dort Wohnhäuser für Offiziere mit Familien, Kasernen, Gemeinschaftseinrichtungen, Wirtschaftsgebäude und Fahrzeughallen. Ab 1949 übernahm die sowjetische Armee die militärische Anlage und baute dort eine Garnison mit zeitweise bis zu 3000 Militärangehörigen auf. Mit Abzug der Sowjetarmee ging das Areal 1994 in Bundeseigentum über.

Nach einem unübersichtlichen Vergabeverfahren wurde die Halbinsel 1998 mit dem bebauten Bereich und den unter Naturschutz stehenden Flächen an einen Investor verkauft, der ein inzwischen mehrfach geändertes Entwicklungskonzept vorlegte. Aktuell wurde dem Investor von der Stadt Rerik das Baurecht entzogen und die Projektentwicklung befindet sich im Stillstand. Auf regelmäßigen Führungen des Heimatvereins kann man das Gelände im östlichen, bebauten Bereich besichtigen und bekommt interessante Informationen zur Geschichte der noch vorhandenen 90 Ursprungsbauten.

Meine eigene Beurteilung der Projekte Seebad Heiligendamm und der Halbinsel Wustrow kann natürlich nur eine kurze Momentaufnahme der sehr komplexen, jahrzehntelangen Planungshistorie sein . Alle beteiligten Akteure haben ihren Anteil an der aktuellen Situation auf der Halbinsel: Einerseits der Bund als Verkäufer, vertreten durch das Bundesvermögensamt und andererseits die Treuhand, mit einer wenig transparenten Grundstücksvergabe. Daneben die Kommune und das Land mit einer gewissen Blockade- und Ausweichhaltung. Am Ende sicher auch der Investor, der bemüht ist, immer möglichst konstruktiv mit guter Presse zu erscheinen. Auf Wustrow zielt er dazu trendbewusst auf das Thema Nachhaltigkeit . Die von ihm bereits realisierten Projekte zeigen aber immer ein umstrittenes Finanzmanagement, das nicht gerade im öffentlichen Interesse steht. Gewisse Vorbehalte der kommunalen Politik sind da schon angebracht. Wer tiefer in das Thema einsteigen möchte, um sich eine eigene Meinung zu bilden, hier der Link zum Eigentümerportal und zum Blog eines regionalen Gästeführers, der versucht hat, die Entwicklung möglichst umfassend darzustellen.

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Das Wustrow-Spezial: Was ist mit der Halbinsel geplant